Reformen? Fehlanzeige!Darum laufen den Kirchen immer mehr Gläubige weg

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Immer mehr Deutsche treten aus der Kirche aus. Hier sieht man ein Hinweisschild mit der Aufschrift „Kirchenaustritte“, es hängt vor der entsprechenden Rechtsantragsstelle im Oberlandesgericht in Köln.

von Maternus Hilger (hil)

Köln – Als jüngst die beiden großen Kirchen in Deutschland neue Rekorde bei den Austritten meldeten, überraschte vor allem ein Detail. Die Zahlen waren – anders als früher – in einem Jahr ohne Skandale durch die Decke geschossen.

Ein Indiz, dass die Glaubwürdigkeitskrise der beiden Kirchen ungebremst fortschreitet. Den Hirten Gottes auf Erden laufen die Schafe weg. Es gebe „nichts schön zu reden“, lautete der Kommentar des Vorsitzenden der katholischen Bischofskonferenz Georg Bätzing (59).

Die Kirchen brauchen Mut zur Veränderung

„Mutige Veränderungen“ seien erforderlich, sagte er noch, doch die sind Fehlanzeige, vor allem in der von Männern dominierten katholischen Welt, in der Hardliner den Reformern Knüppel zwischen die Beine werfen.

Die Kirchenaustritte in Zahlen

Vergangenes Jahr verloren die beiden großen Kirchen mehr als eine halbe Million Menschen. Bei den Katholiken waren es 272.771 – 26,2 Prozent mehr als 2018. Bei den Protestanten waren es etwa 270.000 – rund 22,3 Prozent mehr als im Vorjahr.

Sterben die Christen aus?

22,6 Millionen Katholiken und 20,7 Millionen Protestanten gibt es noch in Deutschland mit seinen 83,1 Millionen Einwohnern. Trotz der Austritte und des teils demografisch bedingten Schwunds immer noch eine beeindruckende Zahl, könnte man meinen.

Doch schaut man in die Zukunft, sieht es düster aus. Bis 2060 könnte sich die Zahl der Mitglieder halbieren, so eine Studie des Freiburger Finanzwissenschaftlers Bernd Raffelhüschen. Und damit auch die Einnahmen aus der Kirchensteuer.

Motive für die Austritte aus der Kirche

Konkrete Erkenntnisse gibt es nicht. Wer beim Amtsgericht seines Wohnortes seinen Austritt gegen Gebühr erklärt, muss das nicht begründen. Sich die Kirchensteuer zu sparen, dürfte sicher eine Rolle spielen.

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Die massenhafte Abkehr hat allerdings noch andere, viel tiefer gehende Ursachen – wie etwa der Schock über den Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche.

Die wachsende Entfremdung vom Glauben

Professor Dr. theol. Manfred Becker-Huberti (74), Kirchenexperte und langjähriger Sprecher des früheren, 2017 im Alter von 83 Jahren gestorbenen Kölner Erzbischofs Joachim Kardinal Meisner, beobachtet den Zustand der Kirche mit großer Sorge.

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Kirchenexperte Prof. Dr. theol. Manfred Becker-Huberti (74)

Uns sagt der Theologe:

Reformen in der Kirche? Fehlanzeige!

Vor allem viele Frauen sind enttäuscht, dass sie in der katholischen Kirche allenfalls als Fußvolk respektiert werden und ihnen der Zugang zu geistlichen Ämtern verwehrt bleibt. Für Becker-Huberti muss sich da was ändern: „Die Frage nach der Gleichberechtigung von Frauen in der Kirche kann man nicht mit dem Argument ersticken, so etwas habe es ja noch nie gegeben.“

Aber auch die Haltung der Kirche zur Sexualmoral, zur Homosexualität oder wiederverheirateten Geschiedenen empfinden viele Menschen als antiquiert. „Seit der Aufklärung“, so Becker-Huberti, „zu der der eine Teil der Kirche bis heute kein akzeptables Verhältnis gefunden hat, flüchtet sich die Kirchenleitung in einen Antimodernismus, der einhergeht mit einer Vergoldung der Vergangenheit und Ablehnung der Moderne. Wohin fehlender Reformwillen bei entsprechendem Reformdruck führt, dokumentieren die Schismen von 1054 und 1517 (Kirchenspaltungen, Anm. der Red.)“.

Ist die Kirche ein Auslaufmodell?

Keineswegs, sagt Becker-Huberti.

Wie geht es jetzt mit der Kirche weiter?

Die Kirche müsse sich fragen, ob sie noch die richtige Sprache spreche, um heutige Menschen zu erreichen, sagt Bischof Bätzing. Wohl wahr, doch mit Worten allein ist es nicht getan. Und ob der Reformprozess des Synodalen Wegs, der in der katholischen Kirche angestoßen wurde, Früchte bringen wird, ist mehr als zweifelhaft.

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Zurzeit sieht es so aus, als ob sich die Katholische Kirche nicht auf einen gemeinsamen Weg einigen kann. Je länger aber der Reformstau besteht, desto mehr Gläubige werden auch auf einem neuen Weg dieser Kirche nicht mehr folgen.

Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm (60) versprach: „Die Kirche will sich verändern und tut dies jetzt schon.“ Auch in der Corona-Krise sieht er eine Chance: Viele Menschen machten jetzt die Erfahrung, dass „die Ungewissheit, wie es weitergehen wird, schwer auszuhalten ist. Der Glaube gibt Kraft dazu“. Aber was nutzt es der Evangelischen Kirche, sich selbst Mut zusprechen, wenn es die Gläubigen nicht nachvollziehen?