75 Jahre KriegsendeZeitzeugin Ingrid (81): Wie ich das Inferno von Berlin überlebte

BerlinMotiv

Ingrid S. denkt an die Tage vor 75 Jahren zurück.

von Markus Krücken (krue)

Berlin – Der Albtraum ist genau 75 Jahre her.

Der Zweite Weltkrieg ging mit der Kapitulation Hitler-Deutschlands am 8. Mai 1945 offiziell zuende.

Über 55 Millionen Tote waren zu beklagen. Das Inferno, das die Nazis im September 1939 mit dem Überfall auf Polen losgetreten hatten, holte sie nun selbst ein.

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Im Mai 1945 sprach Hitler seine letzten Befehle im Bunker an der Reichskanzlei in den Wind, ehe die Bestie feige Selbstmord beging und sich selbst ein Denkmal der Schande im Herzen der Hauptstadt setzte.

Die Einwohner der Stadt waren längst sich selbst in ihrem Schicksal überlassen gewesen.

Wie Ingrid S., die damals das Inferno vom Kriegsende in Berlin als kleines Mädchen erlebte.

Die Zeitzeugin, deren Vater im Krieg gefallen war, schildert im EXPRESS die Wirren der letzten Wochen. Und die erlösende Befreiung durch die Alliierten.

Als wir aus dem Bunker kamen, war das Haus weg

Ingrid S. erinnert sich:

Am 7. April hatte ich Geburtstag und ich habe von meiner Mutter einen großen Wunsch erfüllt bekommen. Einen weißen Kaninchenkragen und einen Muff!

Wenn der Alarm losging, sind wir immer in den Zoobunker gegangen, weil die Bunker, die Hitler gebaut hat, sehr sicher waren. Jeden Tag über die Goethestraße 40 Minuten hin, 40 Minuten zurück. Er stand da, wo das Vogelhaus sich heute im Zoo befindet. Nach dem Krieg haben sie den fast nicht gesprengt gekriegt.

Wenn wir hingingen, hatte ich immer ein Köfferchen und meine Mutter so einen Rucksack und mich an der Hand.

An diesem 14. weiß ich noch wie ich ihr auf dem Weg in den Bunker sagte: Ich möchte aber meinen Muff mitnehmen. Aber sie sagte: Da können wir nicht drauf aufpassen.

Als wir dann nach dem Angriff aus dem Bunker kamen und zu unserem Haus wollten, kam uns die Nachbarin entgegen. Unser Haus ist weg! Es hatte eine Bombe gekriegt. Der Keller und das Vorderhaus waren heil geblieben, aber das Seitenschiff, in dem wir wohnten und das Hinterhaus waren zerbombt.

Ich war sowas von traurig. Ich habe an nichts anderes gedacht als an den Muff.

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Kinder wurden vor dem Bunker totgetrampelt

Dann sind wir in den Keller gezogen. Meine Mutter hatte jeden Koffer gepackt. Ich habe da unten in zwei zusammengebundenen Korbsesseln geschlafen.

Den Trauring und eine kleine goldene Uhr hat meine Mutter hinter einem Ziegelstein eingemauert. Damit das nicht verloren geht. Ein kleiner Junge und seine Mutter waren auch bei uns. Mein Freund hieß Uwe, mit ihm habe ich immer gespielt.

Die letzten Tage, bis zuletzt blieben wir dort auch im Keller. Denn wir hatten vor dem Bunker etwas Schreckliches erlebt. Die Bilder vergesse ich bis heute nicht.

Als wir am Zoobunker ankamen, war die Tür zu. Sie haben uns nicht mehr aufgemacht. Über uns waren schon die Bomben, die Menschen schrien. Kinder wurden totgetreten.

Meine Mutter hat ihre Arme unter meine Arme gepresst und mich irgendwie in dem Chaos der Masse an sich gerissen, da hab ich an ihr gehangen, damit ich nicht falle. Sonst wäre ich auch tot getreten worden.

Ich habe in den Himmel geguckt und das sah so unglaublich hell aus, wie die Bomben fielen. Wie ein Feuerwerk in der dunken Nacht. Wir hatten einfach Glück. Nachdem das runtergekommen war, ist meine Mutter auch nicht mehr in den Bunker gegangen, wir sind die letzten Tage im Keller geblieben.

Als die Russen meine Mutter mitnehmen wollten

Meine Mutter war im Mai 1945 gerade 30 Jahre alt, sie ist 1916 geboren. Mein Vater war ja schon im Krieg geblieben. Ich hatte ja nur sie.

Eines Nachts wurde ich in den zusammengebundenen Korbsesseln wach. Weil so ein Stimmengewirr war.

Die Russen waren in den Keller gekommen. Dann habe ich gesehen, dass sie meiner Mutter eine Pistole vor die Brust gehalten haben. Sie hatte einen Staubmantel an, von ganz toller Qualität, ganz hellgrau. Das muss auf die Russen wie eine Uniform gewirkt haben. Meine Mutter war jung, sie wollten sie mitnehmen.

Dann hat aber die andere Mutter im Keller auf mich gezeigt und gesagt: Tochter, Tochter! Und die Russen haben statt Tochter Doktor verstanden und dann wollten sie sie erst recht mitnehmen.

Da alles zerbombt war und Chaos herrschte, gab es auch Fremde, die auf einmal bei uns waren und Unterschlupf gesucht hatten: Es waren zwei Fremde, zwei tschechische Frauen. Die Russen verstanden ihre Sprache. Sie haben ihnen zugeredet und tatsächlich haben sie meine Mutter dagelassen bei mir. Gott sei Dank ist ihr nichts passiert. Die tschechischen Frauen haben die Russen quasi verjagt.

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Ein Soldat schenkte mir Schokolade

Wir bekamen da unten ja nichts mit. Doch der Krieg musste zuende sein, in unserem Haus zogen russische Soldaten ein und machten im noch heilen Vorderhaus daraus die sogenannte Kommandantur.

Natürlich hatte meine Mutter deshalb riesige Angst.

Denn wir mussten irgendwann ja mal wieder an die frische Luft. Als wir rausgingen, mein Freund und ich, dauerte es nicht lange. Ein russischer Soldat kam auf mich zu. Wir Kinder hatten schreckliche Angst vor ihnen.

Er hat mich auf den Arm genommen. Ich dachte der nimmt mich mit. Ich habe nicht schreien können vor Angst. Aber er war ganz lieb zu mir und gab mir Schokolade.

Dieser Russe muss an seine eigenen Kinder gedacht haben.

In dieser Zeit wurden Pferde geschlachtet. Wer ein Pferd hatte, das wurde einkassiert und geschlachtet. Wir bekamen von den Russen etwas ab. Da habe ich das erste Mal Pferdefleisch gegessen. Das hat süßlich geschmeckt, es war ganz was Besonderes.

Kurz danach sind wir sind dann zwei Straßenecken weiter in einem Haus in ein Zimmer reingesetzt worden.

Das sind meine Erinnerungen an diese letzten Kriegstage. Ich war damals sechs Jahre alt.