Trockener Alkoholiker sprichtWie eine Frage seiner Frau Horst zurück ins Leben half

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Horst Gerdau ist froh, dass seine Kinder ihn nie trinkend erlebt haben. Seinen letzten Schluck Alkohol trank der heute 74-Jährige noch vor der Geburt seines ersten Kindes.

  • Horst Gerdau setzte mit seiner Sucht seine Ehe aufs Spiel.
  • Angehörige wollten ihm helfen – und machten alles nur noch schlimmer.
  • Uns verriet er, wie er es am Ende doch schaffte.

Köln – „Jede Krankheit bietet auch eine Chance etwas zu verändern. Man muss sie nur erkennen.“ Für diese Erkenntnis hat Horst Gerdau (74) viele Jahre gebraucht. 42 Jahre lang arbeitete er bei Bayer in Leverkusen. Heute ist er ausgebildeter Psychotherapeut nach dem Heilpraktiker-Gesetz, genießt seit 2004 seinen Ruhestand. Doch bis es so weit war, hatte der Familienvater einen langen Weg vor sich. Horst Gerdau ist trockener Alkoholiker.

Nach seiner Lehre als Mess- und Regeltechniker war er damals zur Bundeswehr gegangen, kehrte anschließend in seinem Ausbildungsbetrieb zurück. Im Jahr 1969 heiratete er seine große Liebe – und hing an der Flasche. „1970 habe ich das erste Mal gedacht, dass ich ein Problem habe.“ Doch das hielt ihn nicht auf.

Es ist eine Flucht aus dem Alltag. Ein Weglaufen vor Problemen. Aber die werden mit einer Sucht nur noch vergrößert. Oft endet sie sogar tödlich. Jedes Jahr sterben in Deutschland etwa 120.000 Menschen an den Folgen ihres Tabakkonsums, weitere 21.000 an den Auswirkungen schädlichen Alkoholkonsums, und etwa 1300 Todesfälle sind laut des Drogen- und Suchtberichts 2018 der Drogenbeauftragten der Bundesregierung direkt auf den Konsum illegaler Drogen zurückzuführen.

Im Zeitalter der Digitalisierung rücken zusätzlich suchtbezogene Risiken der Internetnutzung in den Fokus. Das Thema Sucht ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig – und trotzdem noch immer ein verschwiegenes. Im EXPRESS sprechen Betroffene, Ärzte und Überlebende – denn alle können mithelfen, gegen Süchte zu kämpfen.

Kurze Zeit später fiel auf der Arbeit auf, dass es ihm nicht gut geht. Als Ausflüchte nannte er seinem damaligen Chef Eheprobleme. Der hat ihn daraufhin für ein Jahr nach München versetzt. Rückblickend keine gute Idee. „Da bin ich dann total unter die Räder gekommen“, so der heute 74-Jährige.

Tiefer in den Teufelskreis

Er lebte im Hotel, ging nur unregelmäßig zur Arbeit – und trank weiter. Zu Spitzenzeiten war es eine halbe Flasche Doornkaat, ein Korn mit einem Alkoholgehalt von 38 Prozent. „Bier dauerte zu lange, bis es gewirkt hat“, sagt er.

Er kam zurück nach Hause, machte im Werkskrankenhaus einen vierwöchigen Entzug. „Mit allen guten Vorsätzen kam ich da wieder raus, aber damals verstand man noch nicht so viel von der Sucht“, so Gerdau. Das Problem war: Gegen Angstzustände, die sich durch die Sucht entwickelt hatten, nahm er ein Beruhigungsmittel. Dieses enthielt neben Kräutern auch Alkohol – weswegen Gerdau bereits kurz nach seinem Entzug wieder an der Flasche hing. Ein Teufelskreis begann.

Nachts ist er immer öfter verschwunden, um „Zigaretten zu holen“. In Wahrheit ging er in die Kneipe, um sich dort zu betrinken. Dort hatte er oft hohe Schulden, die sein Vater heimlich bezahlt hat. Obwohl er seinen Sohn nur schützen wollte, bekräftigte er ihn so unbewusst in seinem Treiben. „Die Konfrontation mit der eigenen Situation ist das Zauberwort“, sagt der 74-Jährige.

Diese erfuhr er, als seine Frau ihm ein Ultimatum stellte. Sie sagte ihm: „Entweder du tust etwas dagegen, oder wir trennen uns.“ Heute kann Gerdau diesen drastischen Schritt seiner Frau nachvollziehen. „Sie wollte bei meiner Selbstzerstörung nicht dabei sein“, erklärt er.

„Ich bin innerlich zusammengeklappt“

Ein befreundeter Pfarrer empfahl seiner Frau schließlich, mit Gerdau zu den Anonymen Alkoholikern zu gehen. Er willigte ein, nachdem seine Frau ihm eine alles entscheidende Frage gestellt hatte. „Sie hat mich gefragt, ob ich sie jemals geliebt habe. Da bin ich innerlich zusammengeklappt und das war der Moment, der mich an meinen Tiefpunkt brachte.“

Gemeinsam besuchten sie die erste Sitzung der Anonymen Alkoholiker. Von diesem Moment an, ging es für Horst Gerdau nur noch bergauf. Drei Wochen nach dem Besuch der ersten Stunde, das war am 14. September 1972, hat er nie wieder auch nur einen Schluck Alkohol getrunken.

Durch Krankheit nur Vorteile gehabt

Heute sagt er: „Ich habe durch meine Alkoholkrankheit danach nur Vorteile gehabt. Meine Schaffenskraft kam zurück und ich habe mein Leben endlich wieder auf die Reihe bekommen. Das hatte Auswirkungen auf meine Ehe und Familie, meinen Freundeskreis und berufliche Vorteile.“

„Danach habe ich angefangen über mein Leben nachzudenken und wollte einiges verändern“, sagt Gerdau. Deshalb nahm er im Jahr 1974 das Angebot eines Freundes an und wechselte in Deutschlands erste Suchtkrankenhilfe bei Bayer. Das Ziel: Alkoholkranken und deren Familienangehörigen („Co-Alkoholabhängige“) zu helfen.

Sie brauchen Hilfe? Hier können Sie sich informieren:

• Blaues Kreuz: Psychosoziale Beratungsstelle und Fachambulanz, Piusstraße 101, 50823 Köln

• Median Gesundheitszentrum: Neumarkt 8–10, 50667 Köln

• Sozialdienst Katholischer Männer: Fachambulanz Sucht   Goethestraße 7, 51143 Köln-Porz

• Jugend Sucht Beratung: Bismarckstraße 1–3, 50672 Köln

• Anonyme Alkoholiker: Salzstraße 2d, 51063 Köln-Mülheim

Mit Einzel- und Gruppensitzungen hatten sie es innerhalb eines Jahres geschafft, dass 30 Menschen, alles Mitarbeiter der Firma, trocken geworden sind. „Die Suchtkrankenhilfe war etwas, das nicht von einem Arzt oder Psychologen erfunden wurde, sondern von ganz normalen Alkoholikern.

Um dann auch therapeutisch arbeiten zu können haben wir eine sozialtherapeutische Ausbildung und den Heilpraktiker gemacht. Ich habe viele schöne Jahre in der ärztlichen Abteilung erlebt“, sagt Gerdau über diese Zeit.

Der Kampf hat sich gelohnt

Heute weiß der Rentner: „Ich habe Bayer, aber in erster Linie meiner Frau, zu verdanken, dass ich diese Krankheit überlebt habe. Denn Leben bedeutet mehr, als nur einen funktionierenden Körper zu haben. Und meine Alkoholkrankheit hat mich an den Punkt gebracht wo ich entscheiden musste: Will ich leben oder will ich sterben?“

Horst Gerdau entschied sich zu kämpfen. Für sich, seine Familie und die Liebe seines Lebens, mit der er 2019 stolze 50 Jahre verheiratet ist.

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