Der vergessene BrexitBoris Johnsons Ritt auf der Rasierklinge

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Wegen des Coronavirus ist der Brexit in den letzten Wochen in den Hintergrund der öffentlichen Wahrnehmung gerückt. Die Verhandlungen gehen jedoch weiter, bislang ist der Erfolg eher mau.

von Maternus Hilger (hil)

London – Gut 100 Tage ist der Brexit her – doch um den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ist es still(er) geworden. Das Coronavirus hat den Abschied der Briten und die Folgen für Europa aus den Schlagzeilen verdrängt. Doch im Schatten der Pandemie geht der erbitterte Kampf zwischen Premier Boris Johnson (55) und der EU weiter.

Schon dreimal haben sich die Unterhändler getroffen, um zu klären, wie der Schaden für die eng miteinander verwobene Wirtschaft nach der Übergangsphase in diesem Jahr möglichst klein gehalten werden kann. Die bisherigen Ergebnisse sind ernüchternd. Es gibt keine.

Brexit – Die Briten weiter in der Zwickmühle

Boris Johnson hat den Briten die Scheidung von der EU als Befreiungsschlag verkauft, als Rückkehr zu alter britischer Größe. Doch die Corona-Krise die der Premier zu Beginn verharmlost hatte, bis er selbst an dem Virus erkrankte, drückt das Land nieder – mit unabsehbaren Folgen für die Wirtschaft.

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Der Kampf zwischen Boris Johnson un der EU läuft immer noch. Hier sieht man den Premierminister von Großbritannien während der „Prime Ministers Question's“ im britischen Unterhaus am 13. Mai 2020.

Viele auf der Insel fragen sich inzwischen, ob es da wirklich noch zu verantworten ist, dem Land zum Jahreswechsel mit einem harten Brexit zusätzlich zu schaden. Für Johnson wird das ein Ritt auf der Brexit-Rasierklinge. Doch das scheint ihm egal zu sein.

Brexit: Worum geht es eigentlich?

Zölle, Handelsverträge, Fischerei- und Markenrechte, Freizügigkeit, gemeinsame Verbrecherjagd, Daten- und Klimaschutz, Energieversorgung, Sicherung von Flug- und Bahnverkehr und vieles mehr – all das muss zwischen den Briten und der EU neu geregelt werden.

Brexit: Was passiert ohne Vertrag?

Dann gibt es den harten Brexit, den Johnson trotz aller Warnungen zu forcieren scheint. Für die Wirtschaft beider Seiten ein Schreckenszenario – zusätzlich zur Corona-Krise.

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So warnt der Bundesverband der Deutschen Industrie: „Ein Auslaufen der Brexit-Übergangsphase am Ende des Jahres ohne Abkommen würde aus einer bereits schwierigen wirtschaftlichen Situation eine katastrophale machen.“

Was erwartet die EU?

EU-Unterhändler Michel Barnier sagt es unverblümt: „Ich bin nicht optimistisch.“ Er wirft Großbritannien eine Blockade bei den wichtigen Themen vor. Die EU werde aber keinen Kompromiss schließen, der dem Binnenmarkt schade.

Großbritannien könne als Drittland nicht die Bedingungen für den Zugang zum EU-Binnenmarkt bestimmen. „Das wird von der EU zu unseren Bedingungen festgelegt werden.“ Zwar wird noch verhandelt, doch London schlägt bereits Pflöcke ein.

So verabschiedete das Unterhaus das Gesetz zur Beendigung der Freizügigkeit für europäische Arbeitskräfte. Bürger aus der EU, Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz hätten dann ab 2021 keinen freien Zugang zum britschen Arbeitsmarkt mehr.

Was treibt Boris Johnson an und um?

Er setzt darauf, mit seiner Hardliner-Tour die EU erpressen zu können. Viel Zeit bleibt nicht. Im Oktober muss der Vertrag fertig sein, um Luft für die Ratifizierung zu haben. Klappt das nicht, wäre noch eine Verlängerung möglich.

Doch die will der Premier offenbar nicht. Möglicherweise setze er darauf, dass ihm die Corona-Krise in die Hände spiele, vermuten Zyniker. Der wirtschaftliche Einbruch wegen der Pandemie könnte – so sein Kalkül– die Turbulenzen des Brexit überdecken.