„A... unten links“Immer der Buhmann: So leiden die Zusteller unter dem Paket-Boom

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Paketzusteller zu sein, ist ein harter und einsamer Job, in dem die Wahrscheinlichkeit, sich viele Freunde zu machen, relativ gering ist.

Halle (Saale) – Weihnachtszeit ist Paketzeit. Gefühlt werden Pakete und Päckchen rund um die Uhr ausgeliefert. Ein Knochenjob – davon können die oft gescholtenen Paketzustelleer ein Lied singen.

Wie Jens Frede. Er liefert seit Jahren Pakete aus und gewährt einen Einblick.

Der Empfänger drückt nach dem zweiten Klingeln auf den Öffner. „Paket“, sagt Jens Frede, der schon wieder halb abgedreht war, um einen Benachrichtigungszettel zu schreiben.

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Mit der Schulter schiebt er nun die Tür auf, es warten vier Treppen, und Frede, dessen Name eigentlich anders lautet, weiß, der Mann da oben, der auf das Paket wartet, das Frede unterm Arm trägt, wird ihm wie immer keinen einzigen Schritt entgegenkommen, während er sich schnaufend 70 Stufen hinaufkämpft.

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Doch besser noch so als unten läuten, bei dem Nachbarn, den ein Kollege mit einem kleinen „A“ am Klingelschild markiert hat. „Arschloch unten links“, heißt das in der Geheimsprache der Zusteller. Übersetzt: Nimmt nichts für Nachbarn an, obwohl er könnte.

„Solche Typen sind die Schlimmsten“, hat Frede in seinen Jahren auf dem gelben Bock eines DHL-Zustellfahrzeuges gelernt. Du klingelst, du wartest, du verlierst Zeit. „Und dann sagt der, nee, für Nachbars nich.“

Vielleicht hat der Mann auch seine Post-Erfahrungen gemacht, nur von der anderen Seite. Millionen und Abermillionen Deutsche können ganze Liederbücher davon singen. Pakete, die nicht zugestellt werden, obwohl man zu Hause ist( hier lesen, was Sie tun können, wenn der Paketbote nicht klingelt). Im Briefkasten ein Zettel: Kann abgeholt werden. Aber erst morgen.

Oder Pakete, die bei einem Nachbarn landen, den ein Buchstabenkrakel auf dem Benachrichtigungsschreiben als „KrLLgdzt“ oder ähnlich bezeichnet. Niemand dieses Namens wohnt im ganzen Viertel, weiß der Empfänger nach zwei Tagen intensiver Fußerforschung.

Und am Ende einer Telefonodyssee vom DHL- zum DHL-Express-Kundenservice stellt sich heraus, dass dort auch niemand helfen kann. Zuständig sei das Internet-Versandhaus Amazon, an das die Posttochter DHL den ganzen Zustellärger mit Amazon-Päckchen und -Paketen per Vertrag ausgelagert hat.

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Damit trifft es wenigstens den Verantwortlichen. Im vergangenen Jahr wurden bereits drei von zehn Interneteinkäufen in Deutschland von einem der 23 Amazon-Versandzentren ausgeliefert.

Den Löwenanteil am Wachstum des Paketmarktes von 1,5 Milliarden Sendungen im Jahr 2001 auf rund 3,2 Milliarden Sendungen in diesem Jahr verursacht damit der Pionier einer neuen Shoppingwelt. Die das Gegenteil ihrer Vorgängerin ist:

Früher brachten große Lastwagen große Mengen von Waren in Kaufhäuser, die Menschen besuchten, um sich einzelne Waren nach Hause zu holen. Heute ist es umgekehrt: Die Kaufhäuser sind als PC, Tablet oder Handy immer schon da, in jedem Wohnzimmer. Kleine Transporter bringen die ausgesuchte Ware nach dem Kauf direkt ins Haus (hier lesen Sie, warum Paketzustellungen an die Haustür teurer werden).

Wenn alles gut geht. Denn die neue Zeit bringt auch neue Konfliktlinien. Inzwischen bestellen 95 Prozent aller Menschen in Deutschland mehr als fünf Pakete im Jahr, 65 Prozent lassen sich sogar mehr als zehn Pakete pro Jahr liefern.

Und zehn Prozent all dieser Lieferungen fallen in die letzten fünf Wochen des Jahres, das bemerken Zusteller wie Jens Frede gleich bei Schichtbeginn. Statt 100 oder 130 Pakete zu transportieren, startet er seine Tour durch Halle jetzt mit 220 oder 250. „Und das, obwohl wegen der Saison schon einige Entlastungsautos unterwegs sind“, beschreibt er.

Nach Branchenschätzungen fehlen derzeit bundesweit knapp 6.000 Zusteller – und im Weihnachtsgeschäft wächst das Zustell-Volumen, das die bei den großen Fünf beschäftigten rund 100.000 Mitarbeiter bewältigen müssen, noch mal kräftig.

Der Paketdienstleister Hermes rechnet für 2017 mit dem mengenstärksten Weihnachtsgeschäft der Unternehmensgeschichte und bis zu 20 Prozent mehr Paketen als Weihnachten 2016. Post-Chef Frank Appel ist inzwischen sogar dafür, pro Stadt ein Unternehmen zum Generalzusteller zu ernennen, um durch Zusammenführung der innerstädtischen Paketzustellung Lieferfahrten zu reduzieren und den Paketstau aufzulösen.

Was früher Ausnahmezustand war, ist heute Alltag für die Fahrer von DHL, Hermes, DPD, GLS und UPS. Und vor Weihnachten tritt ein, was einst unvorstellbar gewesen wäre: Pro Kalendertag werden nun nicht mehr 800.000 Sendungen zugestellt, sondern acht Millionen.

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In mehr als der Hälfte aller Fälle klappt das nicht auf Anhieb, so dass zwei Seiten unzufrieden zurückbleiben – der Zusteller, der dasselbe Paket womöglich morgen noch einmal im Regal auf der Pritsche herumkutschen wird.

Und der Kunde, der abends nach Hause kommt und statt der neuen Playstation, der Apple Watch oder dem funkelnagelneuen Bluetooth-Kopfhörer nur eine mehr oder weniger aussagekräftige Notiz vorfindet, wo und wann das Bestellte vermutlich das nächste Mal greifbar sein wird.

Manchmal kommt die Gelegenheit gar nicht mehr. Nach einer Untersuchung der Berliner Firma Lockboxsystem verschwinden in Deutschland derzeit täglich 2.000 Pakete mehr oder weniger spurlos. Mal hat sie der liebe Nachbar KrLLgdzt. Mal lässt sich selbst das nicht sagen, weil der private Ebay-Händler das neue Handy zwar losgeschickt hat, wie er versichert. Die Post aber keine Sendungsverfolgung für Päckchen anbietet. Und ja, ein Päckchen war es, ist schließlich billiger.

Ein bisschen Schwund ist immer, und was ankommt, geht in vielen Fällen auch wieder zurück. Nach Daten der Forschungsgruppe Retourenmanagement der Uni Bamberg schicken Kunden online gekaufte Mode in fast der Hälfte der Fälle retour. Bei Elektronikartikeln wird jeder zehnte und bei Büchern jedes 20. zurückgegeben. Zusammen macht das 300 Millionen Pakete im Jahr - weit mehr als ohne Kauf- oder Verkaufshintergrund zwischen Privatpersonen verschickt werden.

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Eine Welle, die sich in DHL-Gelb, Hermes-Blau und UPS-Braun so mächtig durch die Innenstädte wälzt, dass zuweilen zwei Lieferfahrzeuge in einer engen Straße umeinander manövrieren müssen. Natürlich, in beiden Fahrzeugen sind viele Pakete, die nicht angenommen und nur spazieren gefahren werden.

Abholen wird sie ihr künftiger Eigentümer schließlich einen Tag später bei der Post, beim Bäcker, beim Optiker oder beim Trödler eine Straße weiter, fast so wie früher im Kaufhaus. Während Jens Frede schon die nächsten Treppen hochkeucht, immer in der Hoffnung, der Empfänger von oben möge ihm doch wenigstens ein paar Schritte entgegenkommen.

Und doch ist das alles erst das Wellental vor einer Tsunami-Woge. Nicht nur Amazon plant für die Zukunft den Einstieg in den Zustellhandel mit Lebensmitteln. Derzeit werden in Deutschland rund zehn Prozent aller Nicht-Lebensmittel im Internet gekauft, bei Lebensmitteln hingegen beträgt der Anteil nur knapp ein Prozent. Da wartet viel Arbeit auf Jens Frede. Und jede Menge Ärger.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf MZ.de.