Horrornächte, Sexismus, miese BezahlungEine wütende Krankenschwester packt aus

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Talkshows und Zeitungen reißen sich derzeit um Nina Böhmer. Der Krankenschwester ist der Hype unangenehm, sie arbeitet lieber im Stillen. Aber ihr Anliegen kann man nun mal nicht laut genug vortragen.

Köln – „Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken.“

Nina Böhmer (28) hatte ihren Wutbrief im März aus Versehen bei Facebook öffentlich gestellt. Er ging viral ab – und die Krankenschwester wurde zur Symbolfigur für das überforderte Pflegepersonal in Corona-Zeiten.

Jetzt nutzt sie ihre Popularität und seziert in einem Buch die Missstände in der Pflege. Nach dem Lesen weiß man: Deutschlands Gesundheitswesen gehört an den Tropf!

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Pflegekräfte sind die stillen Helden in Deutschland“, lobte Bundeskanzlerin Angela Merkel (65, CDU) das Pflege-Personal in Corona-Zeiten. Doch Nina Böhmer will nicht mehr still sein, legt den Finger in die Wunden:

Mangelnde Anerkennung: „Wir werden noch viel zu häufig bestenfalls als Handlanger der Ärzte gesehen, wir sind dazu da, das Essen zu servieren, die Medizin zu bringen und den Hintern der Patienten abzuwaschen.“ Dabei gehe in einer Intensivstation nichts ohne Pflegekräfte. In England sei das anders, weiß sie. „Dort ist das Ansehen einer Krankenschwester auf der Höhe eines Arztes.“

Schlechte Bezahlung: „Was wir tun, ist unbezahlbar. Wir helfen, Leben zu retten. Mir geht es um ein Umdenken in der Gesellschaft. Ist es okay, dass Mitarbeiter von BMW und Daimler, die Autos herstellen, mehr verdienen als Krankenschwestern und Pfleger, die sich um alte Menschen, Behinderte, frisch Operierte und andere Kranke kümmern?“

Zu wenig Personal: Allein zwischen 2002 und 2007 wurden aufgrund zu eng berechneter Fallpauschalen mehr als 30.000 Pflegestellen gestrichen. Nina hat es selbst erlebt: Nachtschicht, allein mit 40 Patienten. Sie musste einen alten Mann eine halbe Stunde auf der Toilette sitzen lassen, weil am anderen Ende des Ganges ein übergewichtiger Mann aus dem Bett gefallen war und sie allein nicht in der Lage war, ihn zurückzuhieven. „Wenn man sich die ganze Nacht um Normal- und ein paar Übergewichtige kümmern muss, die gewendet werden müssen und es nichtallein auf Toilette schaffen, ist man nach der Nachtschicht platt“, sagt sie zu uns.

Sexismus: Da findet sie drastische Worte: „Mich kotzen die Anzüglichkeiten, die unsäglichen Worte und Sätze an, die ich mir laufend von männlichen Patienten anhören muss: »Mein Blutdruck ist nur so hoch, weil Sie so eine attraktive Schwester sind«.“ Geschenkt! Auch sei es ein Unding, dass man Praktikantinnen zum Waschen zu Patienten schicke, die bekannt für Übergriffe seien. Ist ihr mit 16 selbst passiert.

Mobbing: Offener Streit, Zickenkriege und seelische Schikane sind nach ihren Beobachtungen – und als Angestellte in einer Zeitarbeitsfirma kennt sie viele Kliniken – große Themen auf vielen Stationen. Der Druck, unter dem alle stehen, suche sich ein Ventil. Es sei kein Wunder, dass laut Gesundheitsreport Mitarbeiter der Kranken- und Altenpflege überproportional (23 Tage im Jahr) ausfallen.

Unflexible Dienstpläne: „Ein großer Fortschritt wäre, wenn man nicht ein langes Wochenende mit der Familie drei Monate, den Urlaub ein gutes Jahr im Voraus planen muss.“ Auch bei Schichtdiensten wünscht sie sich mehr Flexibilität: Jüngere machen lieber Spätdienst, Menschen mit Familien lieber Frühdienst.

Verkürzung der Quarantäne in Corona-Zeiten für das Pflegepersonal (sieben Tage statt 14 Tage wie bei allen anderen): „Wir werden behandelt, als wären wir keine Menschen, sondern Außerirdische, denen die Natur nichts anhaben kann.“