Sohn totgefahrenKölner Mutter wartet Jahre auf Prozess, das Urteil ist ein Schock

Biggi_Terzi

Die Trauer hat ihre Spuren hinterlassen. Biggi Terzi, einst quirlige Gastronomin in Longerich und bekannt im ganzen Veedel, verlässt heute kaum noch ihre Wohnung.

Köln – Murat steht im Flur und lächelt den Besucher freundlich an – aus einem Fotorahmen. Murat umarmt seine Mutter im Wohnzimmer – auf einem Gemälde. Murat hockt im Schlafzimmer als kleiner Prinz auf dem Kopfteil des Bettes, steht in zigfacher Ausführung auf dem Nachttischchen und prangt lebensgroß auf einem Fotodruck an der Wand.

Murat ist allgegenwärtig, obwohl er tot ist. Seit dreieinhalb Jahren wartet seine Mutter Bedriye („Biggi“) Terzi (50) aus Köln-Longerich darauf, dass dem Todesfahrer der Prozess gemacht wird.

Biggi Terzi: „Ich bin seit dem Unfall auch tot“

„Mein Junge soll endlich seine Ruhe finden“, sagt sie leise. Und sie selbst? Die 50-Jährige ehemalige Gastronomin hebt langsam den Kopf: „Ich weiß nicht. Ich bin seit dem Unfall auch tot. Ich atme nur noch.“

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Sie erzählt ihre Geschichte, die Geschichte einer Mutter, die am Tod ihres Kindes und am langen Arm der deutschen Justiz zerbricht.

Biggi Terzi: „Er war immer freundlich, immer hilfsbereit“

Es war ein ganz normaler Tag, dieser 30. Mai 2016. Nicht zu warm, nicht zu kalt. Nicht sonnig, nicht regnerisch. Murat (damals 22) war gerade fertig mit einem Elektronik-Studium beim TÜV, hatte einem Freund versprochen, ein Wohnmobil von Dortmund nach Köln zu überführen.

„So war er halt“, sagt Biggi Terzi, „immer freundlich, immer hilfsbereit“. Ein Familienmensch, der jeden Sonntag mit ihr und seiner Verlobten frühstückte und davon träumte, einmal ein großes Haus zu bauen, in dem die ganze große Familie zusammenleben würde.

Er habe ihr noch „Allah’a emanet ol“ nachgerufen. „Gott schütze dich, Mama“ ,bevor er losfuhr.

Biggi Terzi: „Er war mein großes Beschützer“

Murat rief den ganzen Tag nicht mehr an, schickte auch keine SMS. „Das kannte ich gar nicht von ihm“, sagt Biggi Terzi. „Aber ich wollte ja, dass er sich mehr abnabelte. Murat war immer für mich da, wartete sogar jede Nacht, bis ich nach dem Kellnern die Wohnungstür aufgeschlossen hatte. Er war mein großer Beschützer.“

Ihr Sohn hatte an diesem Tag keinen Schutzengel. Ein Brummifahrer fuhr um 13.45 Uhr ungebremst in das Stauende zwischen Leverkusen und Burscheid. Der Sattelschlepper schob einen Kleinlaster, einen Kombi, einen Tanklastzug und ein Wohnmobil ineinander. In dem Wohnmobil saß Murat – das einzige Todesopfer dieses verheerenden Unfalls (erfahren Sie hier mehr über den verherenden Unfall, bei dem Murat starb).

Biggi Terzi: „Wir waren dabei, seine Hochzeit zu planen“

Biggi Terzi hat diesen Abend immer wieder vor Augen, drückt wieder und wieder die Returntaste im Hirn. Wie Murats Verlobte anrief, weil sie nichts von ihm gehört hatte. Wie sie drei Wassereis gegessen hatte, „weil mein Herz mit einem Mal so brannte“. Und wie der Polizist in der Gaststätte auftauchte, in der sie kellnerte. „Frau Terzi...“

Und dann – Nebel. Nichts als Nebel. Sie kann sich nicht mehr an die Beerdigung erinnern, die ihre Familie für sie ausgerichtet hatte. Welche Freunde da waren, welche ihrer Stammgäste von früher. Nichts als Nebel.

„Wir waren doch dabei, seine Hochzeit zu planen, aber kein Begräbnis“, sagt sie und zündet sich eine Zigarette an. Die dritte während des Gesprächs.

Biggi Terzi verlässt seit dem Unfall kaum noch die Wohnung

Sie blättert im Fotoalbum, das eine Frau mit einem flotten Kurzhaarschnitt zeigt und einen kräftigen jungen Mann, der seine Mutter liebevoll anlächelt. Heute ist ihr Haar grau, sie war „seit dem Tod nicht mehr beim Frisör“, trägt eine Kette mit Murats Namen um den Hals und verlässt die Wohnung nur noch, um mit Lilly, der Jack Russel-Dame ihres Sohnes, Gassi zu gehen.

Sie kann nicht mehr arbeiten, ihre Schwester Fatma kommt täglich, um ihr beizustehen. „Dabei war Bedriye früher so eine lebenslustige, quirlige Person“, sagt diese. Heute quält sie sich nur noch mit Selbstvorwürfen. Wenn sie doch weniger gearbeitet hätte...

Biggi Terzi macht sich Vorwürfe

„Wir sind an meinem freien Montag immer zum Italiener und ins Kino gegangen. Das war unser Ritual. Hätte ich doch noch mehr Zeit für ihn gehabt.“

Ihre Stimme stockt. Wie so oft. Einmal habe der Todesfahrer sie aufgesucht, um sich zu entschuldigen, sagt Biggi Terzi. „Ich muss ihn wohl ziemlich angebrüllt haben“, das habe zumindest ihre Familie gesagt.

Nebel, der Nebel des Vergessens hat sich wieder einmal wie ein Schutzschild um sie gelegt. Die Wand der Trauer kann auch ihre Therapeutin nicht durchbrechen, die sie einmal in der Woche aufsucht.

Verherender Unfall: War es Sekundenschlaf?

Ihre Stimme wird lauter.

Biggi Terzi ist gläubig

Sie weiß es nicht. Aber sie muss es wissen, um weiterzuleben. Selbstmord ist für die gläubige Muslimin keine Option. „Dann würde ich Murat ja nie wiedersehen.“

Am Dienstag war es dann endlich soweit. Es kam – nach sage und schreibe fast 42 Monaten – zum Prozess vorm Amtsgericht Leverkusen.

„Ich möchte mich persönlich bei Ihnen entschuldigen, dass das so lange gedauert hat“, sagt Richter Torsten Heymann zu  Beginn. Ein Krankenfall habe die Abteilung durcheinandergebracht und dann sei die Akte „mehrfach außer Kontrolle geraten“. Normalerweise sollte solch ein Fall spätestens nach einem Jahr verhandelt werden.

Biggi Terzis Anwalt: „Habe ich noch nie erlebt“

„Ich bin seit über 21 Jahren ausschließlich im Strafrecht tätig, aber dass sich etwas solange hinzieht, habe ich noch nie erlebt“, sagt Biggi Terzis Anwalt, Michael M. Lang (51).

Elf Monate habe die Akte ungeöffnet auf dem Tisch gelegen. „Kein einziger Vermerk, zum Beispiel die Erkrankung eines Abteilungsrichters, nichts“, wundert sich der Anwalt.

Er habe dem Gericht einen bösen Brief geschrieben. Das sei „ein starkes Stück“. Biggi Terzi fragt sich: „Ist das Leben meines Sohnes, Murat Gündüz, dem Gericht so wenig wert, dass immer andere Fälle vorgezogen wurden?“

Am Dienstag wurde auch das Urteil gesprochen. Acht Monate auf Bewährung gab es für den Todesfahrer, dem „dank” erschwerter Ermittlungsbedingungen nichts nachgewiesen werden konnte.

Verhandlung nach über drei Jahren: Richter muss mildes Urteil fällen

Er selbst habe keine Erinnerungen an den Unfall, sagte sein Anwalt für ihn aus. Die beiden Polizisten, die am Unfallort waren, fehlten im Gericht erkrankt. So stützte sich vieles auf Vermutungen. Unter anderem eine Zeitschrift, die zwischen Lenkrad und Windschutzscheibe gefunden wurde. Dass der Fahrer darin gelesen hatte und den Blick von der Fahrbahn, dieser Verdacht liegt nah, konnte aber nicht bewiesen werden.

Dazu kam, dass weder Drogen- noch Alkoholtests ein positives Ergebnis brachten, auch Geschwindigkeit und Ruhezeiten wurden korrekt eingehalten. So sah sich der Richter zu einem milden Urteil gezwungen.