Ohne Hände und Füße geborenSüße Milana (3): Hat der Gynäkologe versagt?

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Milana leidet an Dysmelie der Arme und Beine. Die Dreijährige ist trotzdem ein lebensfrohes Kind, das gerne spielt.

Köln – Ihre blauen Augen strahlen, ihr süßes Lachen ist ansteckend. Milana ist ein lebenslustiges, kleines Mädchen. Wer Zeit mit ihr verbringt, schließt sie sofort ins Herz. Für einen Moment sieht man nur noch den zauberhaften Menschen, der in diesem dreijährigen Wesen steckt. Man sieht einen kleinen, agilen Körper, der aber nicht komplett ist. Milana hat eine Fehlbildung am rechten Fuß. Ihr fehlt der komplette linke Unterschenkel und der Fuß. Ihr fehlen beide Unterarme und Hände.

Kinder ohne Hände und Füße: EXPRESS deckte Fälle auf

Täglich berichten derzeit Medien über die auffälligen, bisher unerklärlichen Häufungen von fehlgebildeten Kindern. Erst wurden sie vom EXPRESS aus Gelsenkirchen gemeldet, dann aus Euskirchen. So wurde eine Lawine losgetreten. Immer mehr Eltern gehen an die Öffentlichkeit, die sagen: „Ja, auch unser Kind ist betroffen. Auch wir wissen nicht, was die Ursache der Dysmelie ist. Auch wir haben Angst.“

Dysmelie: Kölner Familie erzählt ihre Geschichte

Ob die aktuellen Fälle zusammenhängen, ist bisher nicht geklärt. Ebenso, ob es Rückschlüsse auf ältere Kinder gibt, die eine Verkürzung der Gliedmaßen haben. Ein Schicksal teilen jedoch alle Familien: Ein Leben mit einem behinderten Kind ist eine große Herausforderung. Familie Günther aus Köln-Vingst erzählt ihre Geschichte.

Dysmelie: Prothesen im Flur

„Mama, Durst!“, sagt Milana und greift mit ihren kleinen Oberarmen nach einer Trinkflasche mit Saft und hebt sie gekonnt an den Mund. Dann krabbelt sie auf ihren kleinen Unterschenkeln durch die Küche und verschwindet zum Fernsehen im Wohnzimmer, ab auf die Couch. Im Flur stehen ihre kleinen, fleischfarbenen Prothesen mit weißen Turnschühchen dran.

Kinder ohne Hände und Füße: Dysmelie-Fall in Köln-Kalk

Zurück bleibt ein Moment der Stille, als ihre Eltern sich an den Moment erinnern, der alles verändern sollte. Es war der 9. März 2016 im Evangelischen Krankenhaus Kalk. „Machen sie sich keine Sorgen, sie bekommen ein kleines, süßes Mädchen, sagte meine Frauenärztin immer zu mir“, erzählt Maria (35), die Mutter. „Wir wünschten uns von ganzem Herzen ein zweites Kind. Die Vorfreude war riesengroß.“ Dann der Schock nach dem Kaiserschnitt.

Kinder haben Fehlbildungen an allen Extremitäten

Das Kind hatte Deformationen an allen Extremitäten. „Ich konnte nicht mehr sprechen“, sagte Vater German (41). „Es kam alles so unerwartet. Wir waren auf nichts vorbereitet. Wir waren erschüttert und fassungslos.“ Und die Mutter meint: „Ich habe nur noch geweint. Nach der Traurigkeit kam dann die Frage: Wie soll das alles jetzt weitergehen? Wie sollen wir das schaffen? Und was sind die Gründe für diese Schäden?“ Doch das weiß bisher keiner genau.

Kinder ohne Gliedmaßen: Tochter kam in Kinderklinik

Milana war gerade erst zwei Stunden auf der Welt, als ihre Krankenhaus-Odyssee begann. Zur genaueren Untersuchung wurde sie erst in die Kinderklinik Amsterdamer Straße verlegt, dann wieder zurück nach Kalk. Die Mutter, um ihr Kind zu stillen, fuhr immer hinterher. Nach ein paar Monaten kam das Baby in eine Bonner Klinik – in die Obhut von Orthopäden. Die verschiedenen Beinlängen hatten nun eine Fehlstellung der Hüfte zur Folge. Es folgten regelmäßige Kontrollen, ebenso weiter in der Kinderklinik. Hinzu kamen mehrfache Reisen nach Bayern, in eine Spezialklinik mit angeschlossener Prothesen-Werkstatt. Die Eltern, beide berufstätig, investierten dafür jedes Jahr einen Großteil ihres Urlaubs.

Inklusion: Kita für behinderte Kinder

„Da Milana ja wächst und sich ihr Körper dauernd verändert, brauchen wir immer neue Prothesen und Orthesen“, erzählt die Mutter. „Zudem gehen wir jede Woche in die Physiotherapie, damit ihre Muskeln gekräftigt werden.“ Klar, dass auch ihre Kita von Inklusion geprägt ist. Dort zieht der kleine Blondschopf dann die Prothesen aus und spielt fröhlich mit den anderen Kindern. Ganz normal, ganz natürlich. Die Kleinen, erzählt die Mutter, würden völlig unbefangen mit ihrer Tochter umgehen.

Dysmelie: Fassungslos über Gafferin 

Unangenehm wären oft die Erwachsenen: „Als wir einmal Eis essen waren, stand plötzlich eine ältere Frau neben uns, die Milana anstarrte und immer nur sagte: Oh mein Gott, das arme Baby! Oh Gott, oh mein Gott!“ Der Aufforderung, doch bitte weiterzugehen und die Familie in Ruhe zu lassen, kam die Gafferin nicht nach: „Sie lief ein paar Meter, drehte wieder um, stand dann wieder vor uns und sagte erneut: Oh Gott, das arme Baby, oh Gott!“

Behindertes Kind: Angst vor Ärzten

Milana ist auch sehr misstrauisch und ängstlich. So viele fremde Menschen, groß oder klein, die sie anstarren – wortlos oder mitleidig. So viele Mediziner, die sie in sterilen, kalten Räumen untersuchen und anfassen wollen. „Vor Ärzten in großen weißen Kitteln hat sie immer Angst“, meint der Vater. „Verständlich.“ Angst haben aber auch die Eltern – vor der Zukunft mit ihrem an allen Extremitäten behinderten Kind. Wie soll ihre Tochter später alleine essen, sich anziehen, auf Toilette gehen? Wie soll sie schreiben lernen, Sport machen?

Dysmelie: Für immer ein Pflegefall?

Wird sie für immer ein Pflegefall bleiben? „Wir bekommen derzeit Pflegegeld, was uns etwas hilft. Alle Klamotten, also Hosen, Jacken oder Pullover müssen ja noch einmal in eine Änderungsschneiderei und dort gekürzt werden“, meint der Vater. „Alleine Schuhe zu finden, in die ihre Prothesen passen, ohne sofort wieder herauszurutschen, ist nicht einfach.“ Um für das Leben gerüstet zu sein, traf sich die Familie auch mit einem Kölner Contergan-Geschädigten. Der erklärte, wie er mit den Fehlbildungen am Arm aufwuchs, wie er trotzdem den Alltag gemeistert hat.

Dysmelie: Familie schaltet Anwalt ein

„Unsere Tochter soll kein Sozialfall werden – und wir wollen durch sie kein Sozialfall werden“, sagt die Mutter. „Ich schäme mich nicht für sie. Ich bin so stolz auf sie. Wir wollen immer für sie da sein.“ Neben dem Kampf im Alltag ficht das tapfere Paar auch noch einen juristischen Kampf aus, für Schmerzensgeld und Schadenersatz. Denn nach Ansicht ihres Fachanwalts für Medizinrecht muss die behandelnde Gynäkologin schon vor der zwölften Woche, wo noch eine Abtreibung möglich gewesen wäre, gesehen haben, dass das Baby starke Fehlbildungen aufweist. Angeblich war jedoch nie etwas zu beobachten.

Dysmelie: Angst vor Abtreibung 

Ihr Anwalt Hans-Berndt Ziegler (67) sagt: „Ich habe schon viele von solchen Fällen bearbeitet. Es entsteht von der Tendenz her der Eindruck, dass einige Gynäkologen Fehlbildungen erkennen, aber einfach nichts sagen. Sei es aus ethisch-moralischen Gründen – oder weil sie nicht als der Arzt oder die Ärztin dastehen wollen, die Abtreibungen befürwortet. Die Lobby gegen Abtreibungen ist sehr stark, und da wird jede Praxis schnell gebrandmarkt.“

Mutter: Das Kind bleibt bei der Familie

Wäre es besser gewesen, Milana abzutreiben? Eine schwierige, harte Frage. Die Mutter sagt: „Das hätten wir niemals getan. Aber die Ärzte oder die Behörden sollten die Entscheidung den Eltern überlassen. Das Kind bleibt schließlich nicht in der Praxis oder im Amt. Es bleibt bei der Familie. Und die muss sich dann um alles kümmern, was wir gerne auch tun.“