Neue EXPRESS-SerieBrutale Typen und schräge Vögel: Die Geschichte des kölschen Miljös

Nacht im Friesenviertel. Viel spielte sich in der Straße Am Klapperhof ab. Bars, Kaschemmen, Rotlicht. Und immer wieder ging’s zu Wurst-Willy (im Hintergrund).

Nacht im Friesenviertel. Viel spielte sich in der Straße Am Klapperhof ab. Bars, Kaschemmen, Rotlicht. Und immer wieder ging’s zu Wurst-Willy (im Hintergrund).

von Markus Krücken (krue)

Köln  – Er ist eines der „kölschen Originale“, wie sie im Buche stehen. Der „Lange Tünn“, bürgerlich: Anton Claaßen (68). Ein Kind des legendären Kölner Miljös.

In der neuen großen Serie zeichnet EXPRESS jene berüchtigten Jahrzehnte nach, die Köln den Ruf bescherten, die Stadt der Luden und Laster zu sein, in der es härter zuging als sonst wo, ein heißes Pflaster, eins der gefährlichsten sogar über Deutschland hinaus – das „Chicago am Rhein“.

Schillernde Protagonisten prägten diese Zeit. EXPRESS hat die „Miljönäre“ von einst ausfindig gemacht und ihre Geschichten aufgeschrieben. Kaum einer, der ganz oben war, konnte seinen Platz verteidigen. Viele sind abgestürzt. Einige wurden umgebracht. Manche brachten sich selbst um.

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Die Geschichte des kölschen Miljös ist einzigartig: Lesen Sie heute, wie der „Lange Tünn“ die Zeiten erlebte.

Das Nachkriegs-Köln wurde schnell zu einer berüchtigten Hochburg der Kriminalität. Vor allem im Zentrum, dem heutigen Friesenviertel und am Rudolfplatz, eröffneten Ende der 50er Jahre Puffs, Nachtclubs und illegale Zockerhöllen in Serie.

Der Ruf der Stadt sprach sich rasch überregional rum und lockte Verbrecher aus ganz Deutschland an. Wer hier im Zentrum aufwuchs, kam so am Miljö gar nicht vorbei.

„Dahinter standen Frauen in Klappen“

Eben wie der „Lange Tünn“, geboren in der Ehrenstraße. „Meine Oma putzte in der Brinkgasse, das war wie die Herbertstraße in Hamburg. Der Eingang war eine Mauer, dahinter standen die Frauen in den Klappen. Das sah ich früh, und das war für mich Milieu, die Unterwelt“, erinnert er sich.

„Hier in Köln waren so viele Schlägertypen. Wenn man die alle aufzählt, wäre ich morgen noch dran. Man hat die Leute schon von weitem erkannt, wie die rumgelaufen sind, von der Sprache her. Wenn man früher in eine Disco kam, zum Beispiel ins Tivoli auf der Ehrenstraße, zitterte man schon vor Angst. Wenn einer zwei, drei Jahre älter war, war das eine ganz andere Generation.“

Den jungen Claaßen faszinieren die Gestalten wie Schäfers Nas und vor allem Dummse Tünn (siehe rechte Seite), der auf der rechten Rheinseite das Sagen hat und mit seiner Combo die Schäl Sick in Angst und Schrecken versetzt. Die Ausbildung als Industriekaufmann? Die hat er mit Anfang 20 schon geschmissen. Es zählt nur noch „de Dür“ seiner ersten Station als Portier, dem „Lovers Club“ auf dem Hohenzollernring. Denn im Kölner Nachtleben gibt es schwindelerregend viel Geld zu verdienen. Aber man muss aufpassen.

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Köln, das Chicago am Rhein

„Köln war als Chicago am Rhein bekannt, weil es so viele Raubüberfälle gab. Wir hatten mehr Einbrecher und Hehler als Zuhälter. Es gab keine Alarmanlagen wie heute. Und Polizei, Ordnungsamt waren in Teilen korrupt“, behauptet der Tünn.

Das Zentrum der Luden und Kleinkriminellen ist die legendäre Boxerkneipe „Klein Köln“, betrieben von „Beckers Schmal“, einem großzügigen Organisationsgenie und Fußballfan. Einmal pro Woche trifft sich hier stets ein ausgewählter Kreis.

Denn die Luden haben sogar einen eigenen Fußballverein: FC Johnny. 100 D-Mark Beitrag sind donnerstagabends fällig. Als Gastspieler ist FC-Ikone und Weltmeister Heinz Flohe oft bei den Spielen dabei. Einmal fährt eine Abordnung der Luden sogar zu einem Auswärtsspiel nach Wien, wo der Mitspieler mit dem Spitznamen „Protestvogel“ mit mehreren „Mädche us em Levve“ auf zwei Schimmeln auf den Platz zum Anstoß gegen die Wiener „Kollegen“ angeritten kommt.

Drogen sind seit den 80ern Standard in der Szene. „Jeder hat Drogen genommen. In den 80ern kam das Kokain auf. Und Pillen. Es war eine Modewelle. Manche blieben hängen, andere nicht.“ Seine eigene Milieu-Karriere taugt für einen Filmstoff: Tünn, alias Anton Claaßen, wurde Augenzeuge von Morden. Er geriet zum Zuhälter, landete selbst im Knast. Der bekennende Wettsüchtige verzockte sein Vermögen. Er ist einer der letzten Zeugen, die den Aufstieg und Fall der kölschen Originale miterlebten.

Dann übernahmen Clans das Sagen

Ende der 80er übernahmen ausländische Clans das Sagen in der Kölner Unterwelt. Italiener, dann Türken. Der „Tünn“ schildert die Zustände so: „In Hamburg gab es eine richtige Hierarchie. Hier in Köln aber war jeder Zuhälter dem anderen sein Teufel. Keiner gönnte dem anderen was. Der Nachwuchs fehlte. Deshalb konnten sich auch später die Ausländer breit machen.“

Die neuen Herren wissen sich zu organisieren: „Die trommelten schnell 50 Mann zusammen, dann warst du im Nachteil. Sie trainierten alle, Kickboxen, Taekwondo, sie haben es verstanden, Frauen anzumachen. Die Frauen stehen auf Machotypen, auch wenn sie es nicht zugeben.“ Das alte Miljö verlor seine eh zweifelhafte Souveränität und geriet ins Hintertreffen.

Die Geschichte des kölschen Miljös und seine Anekdoten schildert Anton Claaßen heute als Stadtführer. Und was er einnimmt, verliert er im Wettbüro.

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Diese „Miljönäre“ regierten die Straße

Miniplis, 20000 DM teure Mäntel, fette Cadillacs und Goldketten waren Statussymbole der Figuren, die in den Miljö-Zeiten das Sagen hatten. Neben Paradiesvögeln wie „Frischse Pitter“ oder Frauentypen wie „Abels Män“ und „Pille Rolf“ beherrschten vor allem der gefürchtete „Schäfers Nas“ und sein Rivale „Dummse Tünn“ die Szene.

Die Hierarchie des Miljös. „Jeder war auf sich fixiert. Man musste zusehen wie man zurechtkommt.“ So erklärt der „Lange Tünn“, warum er lieber ein Einzelgänger blieb und sich an der Tür oder in der Zockerhölle wohler fühlte als in der Runde der Luden, deren Koryphäe vor allem einer war: „Wer am stärksten war, konnte machen was er wollte. An Schäfers Nas ging keiner ran. Wenn du da der Polizei einen Tipp gegeben hast, ist nichts passiert.“

Das waren Schäfers Nas und Dummse Tünn

Heinrich Schäfer, genannt Schäfers Nas und sein Kontrahent Anton Dumm, professioneller Boxer, genannt „Dummse Tünn“, gelten bis heute als die größten Herrscher des kölschen Miljös. Zahlreiche Legenden ranken sich um die Schläger, die das Nachtleben buchstäblich im Griff hatten und sich zumeist aus dem Weg gingen, bis es zwischen ihnen dann doch auch mal krachte. Punktsieger auf dem Ring: Die Nas.

Tünn: „Nach der Nas und Dummse Tünn gab es weit und breit nichts. Gegen die gab es kein Ankommen. David war ein persischer Ringer, o.k., der hätte auch der Nas schon Paroli bieten können. Aber der ging dann erst nach Hamburg und wurde später Leibwächter im Iran.“

Doch nicht nur die Gewalttäter, auch andere Protagonisten verschafften sich einen besonderen Status in den wilden Jahren. Türsteher „Karate Jacky“ galt im Straßenkampf als unbesiegbar, „Beckers Schmal“ hatte das „Klein Köln“ inne und galt unter den Luden als hoch angesehen. Denn er stellte sogar Querverbindungen zu „Kollegen“ anderer Städte her.

„Beckers Dieter hatte Verbindungen nach Hamburg. Dort war Hanne sein Freund, der Besitzer der Boxerkneipe Ritze. Die Verbindung Köln und Hamburg hat funktioniert, von der Mentalität her“, erinnert sich der „Lange Tünn“. Schräge Vögel gab es unter den Zeitgenossen geradezu en masse. Zum Beispiel „Pille Rolf“, der seinerzeit angesagteste DJ und Frauenheld mit extravagantem Modestil. Auch „Frischse Pitter“, jahrelang als „Wirtschafter“ im Bordell tätig, fiel wegen seiner berühmten Minipli-Frisur überall auf.

Es gab Regeln und einen Ehrenkodex

Im Casino sah man zu jenen Zeiten ebenfalls oft die gleichen Gesichter. „Der größte Zocker war der Gelsenkirchener Willi, der absolute König von allen. Wenn der kam, hat er offene Bank gemacht. Er hat gezinkte Würfel aus Las Vegas eingesetzt. Geld war Spielgeld für uns. Ich habe jeden Tag gezockt. Solange ich Geld habe, macht mir auch Verlieren Spaß“, gibt der Lange Tünn einen Einblick in die Spielhöllen vergangener Tage.

Trotz aller Rivalität und Auseinandersetzungen, die es untereinander gab, betonen die Miljö-Größen von einst nahezu unisono, dass es auch Regeln, ja gar einen Ehrenkodex gab. Man durfte nicht die Freundin eines anderen „anmachen“.

Wettschulden waren Ehrenschulden. Kam ein „Miljönär“ aus dem Knast, wurde für ihn gesammelt, damit er finanziell Fuß fassen konnte.