„Unheimliches Grollen“So erlebte ein Kölner als Kind den Zweiten Weltkrieg

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Helmut Pohl blättert in seiner Wohnung in Klettenberg in einem Fotoalbum. Er war mehr als 35 Jahre lang beim WDR in der Sendetechnik beschäftigt.

Köln/Heimerzheim – Vor 75 Jahren war Köln zum letzten Mal im Trommelfeuer der alliierten Bomber. Am 6. März 1945 marschierten US-Truppen in die Trümmerwüste rund um den Dom ein und befreiten die Stadt von den Nazis. Helmut Pohl war zuvor als Zehnjähriger aus dem Kriegsinferno nach Heimerzheim geflüchtet – und erlebte dort die nächste Hölle. EXPRESS machte sich mit dem 85-Jährigen auf eine Reise in die dunkle Vergangenheit.

Kanonendonner, irre Panik, Feuerbälle, betende Hände, Explosionen, einstürzende Häuser, zerfetzte Tote in Schuttbergen. Helmut Pohl versinkt in Erinnerungen voller Angst und Schrecken, wenn sich der März jährt. Er war ein kleiner kölscher Jung, als er das blanke Grauen erlebte.

Letzter Bomben am 2.März 1945: 75 Jahre Kriegsende in Köln

Auch nach 75 Jahren holen ihn die Gespenster immer noch ein. Es sind Szenen, Geschichten wie diese, die ihm immer noch Tränen in die Augen treiben: „Wir lebten in Lindenthal, nahe der heutigen Uniklinik. Da wurde 1941 ein britischer Bomber abgeschossen und krachte vor unsere Wohnung. Mein Vater sah das Wrack mit zwei toten Piloten beim Blick aus dem Fenster. Ich lag noch im Bett, als plötzlich die noch nicht abgeworfenen Bomben im Flieger explodierten.

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Die Druckwelle war so stark, dass alle Scheiben zerbarsten, ich aus dem Bett gehoben wurde und durch einen Türrahmen hindurch fünf Meter weiter in die Küche flog und dort unter dem Tisch landete. Aber ich überlebte, unverletzt.“

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In Köln: Helmut Pohl mit seinem Vater Paul, der aus Russland  heimgekehrt war und 1957 an einem Lungenriss durch Granatsplitter starb. 

Um vor dem Tod in Köln zu fliehen, packte seine Mutter Anfang 1945 kurzerhand einen Kinderwagen mit Nahrungsmitteln und Dokumenten, nahm ihren Jungen an die Hand und machte sich zu Fuß mit ihm auf – zu Verwandten nach Heimerzheim, ein Dorf westlich von Bonn mit damals rund 1200 Einwohnern: „Dort hatten mein Onkel und meine Tante eine Bäckerei. Wir hofften, das alles irgendwie zu überleben.“

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Fast 30 Kilometer liefen Mutter und Kind über Felder, Wiesen, Berge. Erst immer an der Luxemburger Straße entlang, dann eine scheinbar endlose Metternicher Straße Richtung Heimerzheim. EXPRESS fuhr mit Pohl dieselbe Strecke, auf der er sich als Panz damals die kleinen Füße wund lief.

Zweiter Weltkrieg in Köln: Am 3.März 1945 wurde auch Heimerzheim bombardiert

„Stopp, das kenne ich noch“, sagt er während der Fahrt und deutet auf das Donatus-Heiligenhäuschen mitten zwischen Ackerflächen. Wir halten kurz. „Hier rollten damals die Panzer und Armeefahrzeuge lang. Alles ging kaputt, aber das Heiligenhäuschen nicht“, sagt er und hält einen Moment inne. Von dort aus waren es für ihn und seine Mutter noch etwa fünf Kilometer zu laufen: „Ich mööch zo Fooß VUN Kölle jonn“, sangen beide damals in Anlehnung an Willi Ostermann. Die Hoffnung auf Frieden – sie wuchs.

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Gedenken am Donatus-Heiligenhäuschen, Metternicher Straße. EXPRESS fuhr mit Pohl den Weg ab, den er vor 75 Jahren lief.

Doch was die Geflüchteten nicht wissen konnten: Die Wehrmacht hatte Heimerzheim zu einer Festung ausgebaut. Mit mehreren Flugabwehrkanonen, Schützengräben, SS-Einheiten. Sie alle sollten den Vormarsch der alliierten Truppen Richtung Bonn stoppen.

Am 3. März brach der Tag an, der alles verändern sollte. „Es war ein ruhiger Morgen und ich hatte gerade eine Feldpostkarte an meinen Vater geschrieben, der in Russland kämpfte. Da erfüllte ein unheimliches Grollen die Luft.“ Es war 11.03 Uhr, als eine US-Bomberdivision mit 36 Flugzeugen ihre volle Last ausklinkte. Mehr als 200 verheerende 500 Pfund-Bomben regneten auf die Fachwerkhäuser und Scheunen nieder und legten in Minuten das Dorf in Schutt und Asche.

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„Wir waren im Haus meiner Verwandten und sind sofort zu zwölft alle übereinander Richtung Keller gestürzt. Wir hatten Panik. Ich hörte nur Weinen, Tränen, Gebete. Ein großes Durcheinander, während um uns herum die Detonationen alles erschüttern ließen.“ Noch heute kann Pohl sich an den Höllenlärm, die Gerüche, die Schreie erinnern.

US-Bomber legten Heimerzheim in Schutt und Asche: 180 Tote

Im Wortlaut spricht er dann auch das nach, was nach dem Angriff passierte. Denn plötzlich riss jemand die Kellertür auf und schrie zu den zusammengekauerten Menschen hinab: „Ürens Schäng sitz op dem Trümmergrundstück wie op ene Kist und hät ene Balken üver singer Brust liejen!“ Pohl wiederholt die Worte nochmal: „Der Mann schrie, dass unser Onkel Johann auf einem Trümmergrundstück wie auf einer Kiste sitzen würde und einen Balken über der Brust habe.“

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Wie ein Skelett: Köln ist im März 1945 rund um den Dom nur noch eine Trümmerwüste.

Was war passiert? Pohl rekonstruiert: „Mein Onkel hatte in einem anderen Haus Schutz gesucht. Das wurde von einer Bombe getroffen. Die Wucht hat ihn aus den eigenen vier Wänden quer über die Straße katapultiert, auf ein Haus, das kurz zuvor zerstört war. Er war also auf den Trümmerberg geflogen und seine Leiche landete auf einer Kiste. Und wurde von einem schrägen Balken festgehalten.“

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Doch neben der Trauer um einen Angehörigen musste der Junge noch viele weitere grauenhafte Bilder sehen. Ein abgerissener Pferdekopf mitten auf einer Straßenkreuzung. Leichen über Leichen in den Bombenkratern. „Eine Mutter mit sechs Kindern – alle tot. Es war furchtbar“, sagt Pohl leise.

Heimerzheim im Weltkrieg: Nach den Bombern kamen die Jagdflieger

Die albtraumhaften Szenen, der unerträgliche Wahnsinn am helllichten Tag. Noch bevor die Überlebenden in Heimerzheim nur ansatzweise versuchen konnten, das alles zu verarbeiten, kam schon der nächste Alarm: „Wir hörten plötzlich, wie zwei Flugzeuge auf uns zukamen. Es waren zwei amerikanische Jagdbomber, die uns entdeckt hatten und beschossen. Gegenüber war ein älteres Ehepaar, das gerade aus dem kaputten Haus herauskam. Da klinkte ein Flieger eine Bombe aus, es gab eine Explosion – und das Ehepaar war verschwunden.“

Weiter ging die Flucht für das Kind in das benachbarte Metternich. Traumatisiert verkrochen sich alle in einem Erdloch. „Da hörten wir plötzlich englische Sprache. Es waren Amerikaner, die mit ihren Sherman-Panzern den Berg hinaufgerollt kamen.“ Als ein Soldat den kleinen Helmut sah, grüßte er: Hey Boy! Und schenkte ihm ein Päckchen. „Es roch nach Pfefferminz. Da sagte meine Oma: »Oh, da können wir uns ja einen schönen Tee von machen!«. Ich stellte fest, dass das Kaugummi war. Das kannte ich gar nicht.“

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Unfassbares Wiedersehen nach mehr als 75 Jahren: Helmut Pohl trauert mit Christine Porschen um die vielen Toten, die beide gekannt hatten.

Der Krieg war vorbei, doch in den Köpfen der Menschen von Heimerzheim tobt er bis heute weiter. Als Helmut Pohl mit EXPRESS durch die Straßen läuft, wo früher sein Wohnhaus stand und er all den Schrecken erleben musste, macht er eine wundersame Begegnung. Plötzlich steht ein Nachbarskind vor ihm. Christine Porschen, damals sechs Jahre alt, jetzt 81.

75 Jahre nach dem Angriff: Am 3.März um 11.03 Uhr Gedenkfeier in Heimerzheim

Beide schwelgen in Erinnerungen über gemeinsame Freunde und Bekannte: „Die Bomben damals, das war alles so furchtbar“, erzählt die sympathische Seniorin: „Noch lange Zeit später, wenn ich ein Flugzeug hörte, habe ich mich automatisch geduckt. Da habe ich es wieder mit der Angst gekriegt.“

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Offiziell zählte Heimerzheim am 3. März 1945 insgesamt 180 Tote. Jeder achte Heimerzheimer verlor durch den Angriff sein Leben. Am 3. März um 10.45 Uhr, findet eine Gedenkfeier vor der katholischen Kirche statt. Um 11.03 Uhr werden die Glocken zur Erinnerung läuten.

Helmut Pohl sagt abschließend: „Noch heute reißen mich die Toten aus dem Schlaf. Warum gerade ich noch lebe, kann ich nicht sagen. Ich muss wohl einen Schutzengel gehabt haben. Ich kann nur immer wieder sagen: Nie mehr Krieg.“