Bonner StadtdechantBittere Abrechnung mit Corona-Ignoranten

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Stadtdechant Dr. Wolfgang Picken.

von Marion Steeger (MS)

Bonn – Das öffentliche Leben liegt brach. Geschlossene Geschäfte, kein Feierabendbierchen mehr in der Kneipe, keine tobenden Kinder auf Spielplätzen. Eine schwierige, belastende Situation für die meisten. Wie geht man damit um? Kann man Hilfe im Glauben finden? Wie sieht es mit der Solidarität der Bonner in dieser Krisenzeit aus?

Der Bonner Stadtdechant Dr. Wolfgang Picken sprach darüber mit EXPRESS, hat zu Coronaparties eine klare Meinung, gibt Tipps für den Umgang mit der ungewohnten Stille.

Die Corona-Krise beschäftigt gegenwärtig alle. Wie gehen Sie damit um?

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Ich bin betroffen wie alle! Die Einschränkungen unserer normalen Lebensumstände kommen so schnell, dass es unwirklich scheint. Die täglichen Nachrichten werden jeden Tag schlechter. Die Straßen leeren sich. Viele Menschen wirken besorgt. Fast wirkt es wie in einem Science-Fiction. Aber es ist eine Realität. Kein Wunder, dass uns das alle bedrängt.

Halten Sie die Maßnahmen gegen das Virus für angemessen? Diese Frage stelle ich mir nicht. In solchen Ausnahmefällen gibt es nur einen Weg: Wir vertrauen denen, die kompetent sind und einen größeren Überblick haben als wir selber. Und wichtig ist, dass wir in uns alle gemeinsam an die Regelungen halten, damit die Verbreitung des Virus eingegrenzt werden kann und größere Katastrophen möglichst verhindert werden.

Aber nicht jeder hält sich daran...

Dafür habe ich kein Verständnis. Gruppentreffen in der Außengastronomie, Coronaparties von Jugendlichen oder in Gangs durch die Straßen randalieren, auch das unbeaufsichtigte Spielen von Kindern im Freien oder das Spazierengehen von Großeltern mit den Enkelkindern zeigen, dass viele den Ernst der Lage nicht verstanden haben. Oder sie begreifen nicht, was Solidarität heißt. Aber genau das braucht es jetzt: Wir müssen gemeinsam Verantwortung übernehmen, damit das Virus sich nicht verbreitet und noch mehr Todesopfer fordert. Auch wenn man nicht zur Risikogruppe zählt, kann man das Virus in diese Gruppen übertragen, ohne es selbst zu merken: an den Nachbarn, die Eltern oder Großeltern, die Angehörigen von Freunden zum Beispiel. Wer will die Verantwortung auf sich nehmen, dass er ursächlich für die schwere Erkrankung oder den Tod eines Mitmenschen ist? Deshalb: auch wenn die Einschränkungen unangenehm sind, wir müssen sie alle umsetzen.

Aber es gibt auch Gegenbeispiele. Ja, erfreulich viele. Besonders junge Menschen, Schüler und Studenten melden sich und wollen helfen. Wir arbeiten in der Bonner Stadtkirche an einem Netzwerk, um Nachbarschaftshilfe zu organisieren. So können die besonders Gefährdeten zuhause bleiben, ohne dass es ihnen an etwas fehlt.

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Für viele ist es enorm schwierig, dass jetzt die sozialen Kontakte fehlen Das ist in der Tat ein Problem. Wir sind diese Ruhe und Zurückgezogenheit nicht gewohnt. Anfangs denkt man sich: endlich mal Zeit. Aber dann kann es schnell passieren, dass einem die Decke auf den Kopf fällt. Oder es gibt Ärger in Partnerschaft und Familie, weil man mit der Nähe nicht umzugehen weiß.

Wie soll man darauf reagieren? Erstmal muss man wissen, dass es normal ist, wenn Stille und Abgeschiedenheit schwer fallen. Jeder, der mal stille Zeiten verbracht hat, kennt das. Es geht nicht ohne Koller! Man kann versuchen, den Koller auszuhalten und abzuwarten. Manche erleben dann so etwas wie den Durchbruch durch eine Schallmauer, hinter der neue Erkenntnisse und Ideen stehen. Wüstenzeiten – sagen wir gerne – haben Chancen. Wir stellen fest, was nicht wichtig ist, und entdecken, was bleibt und Bedeutung hat. In der Stille sein ist eine der besten Voraussetzungen, um sich selbst und Gott in seiner Nähe zu entdecken. Wir lernen zu beten und zu meditieren.

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Auch die Natur kann in dieser Zeit Trost spenden.

Aber was macht der, dem das nicht gelingt? Man muss nicht den Held spielen oder religiös werden. Man kann – solange das noch möglich ist – die Wohnung verlassen und sich bewegen. Toll ist es, die Natur einmal anders zu erleben, gerade jetzt wo es überall Vorboten des Frühlings gibt. Oder man nimmt endlich wieder soziale Kontakte auf, die man schon lange vernachlässigt hat. Also über Telefon oder andere Medien. Briefe schreiben, ist auch eine gute Idee. Man könnte auch neue Kontakte knüpfen. Die Telefonnummer des Nachbarn beispielsweise erfragen, an dem man bisher immer vorbei gegangen ist und neu in Verbindung treten.

Ich nutze solche Gelegenheit gerne, mich mit mir selbst und der eigenen Geschickte zu befassen: Fotoalben blättern, Erinnerungen aufschreiben oder Bücher nochmals lesen, die einen beeindruckt haben, Musik hören. Wir bereiten in der Bonner Stadtkirche gerade Podcasts und Videos vor, die für den Umgang mit der Stille Tipps geben werden. Und wenn Probleme bedrängend werden, soll es eine Hotline geben, die ein Gespräch mit einem Seelsorger ermöglicht.

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Hilft Ihnen der Glaube in dieser Krise? Der Glaube hilft mir immer. Wir erleben eine Fastenzeit besonderer Art. Irgendwie ist sie uns allen durch die Virus-Krise auferlegt: Entschleunigung, Reduktion und Verzicht. Als religiöser Mensch hat man Erfahrung damit, dass es oft solche Zeit braucht, damit wir uns selbst wiederfinden und uns von Unbedeutendem lösen. Jede Fastenzeit ist schwer, aber sie hat große Chancen. Wer sich gut auf sie einlässt, wird mit dem Osterfest beschenkt. Das heißt am Ende gibt es einen neuen Aufbruch, ein anderes Leben, eine neue Freude an sich, an der Welt und auch an Gott. Ich meine, unsere Gesellschaft könnte das gut brauchen, damit wir beispielsweise den sozialen Problemen und der ökologische Krise endlich anders begegnen. Also ich bin aus Erfahrung sicher: Auf diese besondere Fastenzeit wird Ostern folgen, sie kann uns positiv verändern.

Denken Sie, Gott hat uns eine solche Krise geschickt, damit wir uns ändern? Nein, das denke ich nicht. Was wäre das für ein Gott, der uns Krankheit, Not und Tod schickt, damit wir begreifen. Zu meinem Bild von einem liebenden Gott passt das nicht. Ich verbinde mit Krisenzeiten im Rückblick bisher immer die Erfahrung, dass mir Gott dann besonders nahe war. Er hat mich niemals untergehen lassen. Deshalb habe ich jetzt viel Vertrauen und Zuversicht. Und ich bin überzeugt, dass es möglich ist, diese Coronakrise als Chance zu nutzen. Sie könnte uns helfen, kritisch hinzusehen, umzudenken und anschließend anders zu leben: umsichtiger und bewusster.