Ärztemangel in NRWDer letzte Kinderarzt in Köln-Chorweiler schlägt jetzt Alarm

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Seit fast zehn Jahren ist Detlev Geiß (69) der letzte Kinderarzt in Köln-Chorweiler.

von Martin Gätke (mg)

Köln – Husten, Niesen, Röcheln. Der Wartesaal von Dr. Detlev Geiß (69) ist voll wie immer. Das nächste blasse Kind wird aufgerufen. Erst gibt’s das Stethoskop mit Micky Maus am Schlauch. Dann das obligatorische Fruchtgummi.

Alltag von Geiß, oben in der in der neunten Etage eines Hochhauses in Köln-Chorweiler. Er ist der letzte Kinderarzt im Stadtteil. Und schlägt jetzt Alarm.

„Freude ist nur eine Seite der Medaille”

Geiß liebt seinen Beruf, keine Frage. „Doch die Freude an der Pädiatrie ist eben nur eine Seite der Medaille.“ Keine Onkel-Doktor-Romantik. Geiß ist schon seit fast zehn Jahren Chorweilers letzter Kinderarzt. Gleichzeitig kommen immer mehr kleine Patienten zu ihm: Seit dem Jahr 2000 sind es mehr als 20.000 zusätzlich.

Am Rande der Belastungsgrenze

Das heißt vor allem eins: Langes Warten auf Termine für Vorsorgeuntersuchungen und eine volle Praxis.

Der Kölner Kinderarzt ist aber längst nicht der einzige Kinderarzt, der am Rande seiner Belastungsgrenze oder schon weit darüber hinaus arbeitet. Deshalb schlägt auch der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) Alarm. Und fordert: Mehr Kinder- und Jugendärzte! Jetzt!

„Nicht nur Kinderärzte fehlen”

„Wir müssen am derzeitigen Kinderärzte-Mangel dringend etwas ändern. Sonst erleben wir in zehn Jahren eine Tragödie“, erklärt Josef Kahl vom BVKJ, der in Düsseldorf selbst eine Kinderarztpraxis hat.

Mit zwei nur angestellten Assistentinnen in Teilzeit arbeitet auch er unter großer Belastung. „Nicht nur Kinderärzte fehlen, sondern generell Allgemeinärzte“, erklärt er.

„Ein wichtiger Grund dafür: Es gibt viel zu wenig Studienplätze. 12.000 Plätze gibt es heutzutage, vor der Wende waren es noch 16.000. Schuld dafür ist das föderale System. Die Koordination zwischen staatlicher und regionaler Ebene ist mangelhaft.“

Mehr Vorsorge, aufwendigere Untersuchungen

Gleichzeitig aber sei die generelle Vorsorge gestiegen. Es gebe eben mehr Impfungen als früher. Und auch die psycho-sozialen Erkrankungen hätten zugenommen, ADHS zum Beispiel.

„Natürlich ist es gut, dass wir den Kindern gezielter helfen können. Doch psycho-soziale Untersuchungen dauern länger und sind aufwendiger. Gleichzeitig gibt es sehr viel mehr Kinder als früher.“

Höhere Geburtenrate, zusätzliche Vorsorgen

Um mit dem Babyboom und den Zuwächsen durch die Flüchtlingskinder Schritt zu halten, brauche es aber mehr Ärzte. Dazu komme die höhere Geburtenrate und die vielen zusätzlichen Vorsorgen und die viel häufiger vorkommenden Verhaltens- und Leistungsprobleme. 

Und auch die Ausbildung müsse besser werden. „Meine Forderung an die neue Regierung: Wir müssen die Studienplätze endlich erhöhen“, so Kahl. „Und die Bundesärztekammer muss die Weiterbildungsverordnung verändern. Das heißt: Die Teilnahme an pädiatrischen Unterrichtsmodulen muss im Studium vertieft werden.“

80 Prozent haben in Chorweiler Migrationshintergrund

Auch bei Köln-Chorweilers letztem Kinderarzt ist der Babyboom spürbar. Viele junge Syrer und Afrikaner sind unter den Patienten, 80 Prozent hier haben Migrationshintergrund, schätzt Geiß. „Doch zum Glück hatte ich damals so einen guten Englisch-Lehrer.“ Er schmunzelt.

Doch die zugenommenen gesetzlichen Verordnungen erschweren manchmal eine Untersuchung, insbesondere der hohe Standard in der Aufklärungspflicht.

„Jeden, der nicht gefährlich erkrankt ist, den müsste ich eigentlich wieder nach Hause schicken. Er müsste sich auf eigene Kosten einen Dolmetscher besorgen.“ Im Alltag kaum realisierbar. 

50 bis 60 Stunden pro Woche gehen nicht mehr

„Gleichzeitig sind heutzutage über 80 Prozent der jungen Nachwuchsärzte weiblich“, erklärt Geißen weiter. „Und die haben einen völlig anderen Lebensentwurf als wir damals. Sie wollen andere Arbeitszeiten, als wir noch leisten konnten.“

50 bis 60 Wochenarbeitsstunden wie früher– für viele für die jüngere Ärztegeneration keine Option mehr. Da brauche es völlig andere Strukturen.

Doch es verändert sich nach wie vor wenig, obwohl der Ärztemangel schon seit Jahren bekannt ist. Kahl: „Offenbar muss das Fass erst überlaufen, bis endlich etwas passiert.“

Hier fehlen in NRW besonders Ärzte

In ländlichen Gebieten ist der Kinderarzt-Mangel bei uns in NRW besonders spürbar. Junge Kinderärzte gehen lieber in die Stadt als aufs Land. Zum Beispiel am Niederrhein: Im Kreis Kleve hat sich sogar schon eine Elterninitiative gegründet. Auch Süd- und Ostwestfalen ist vom Engpass besonders betroffen, ebenso das Bergische Land, das Sauerland, das Siegerland. Doch auch einige Städte sind betroffen: Als neuer Patient wird es in Köln, Dortmund und Düsseldorf schwierig. Auch Mönchengladbach und Wuppertal hat laut BVKJ Probleme.