Schwerhörigkeit bei KindernEine frühe Diagnose hilft bei Heilung und Kompensation

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Experten fordern ein Hör-Screening vor der Einschulung.

Bei Kindern werden Hörstörungen offenbar häufig übersehen. Weil sie in der Schule irgendwann abschalten, werden nicht selten falsche Diagnosen wie ADHS gestellt. Experten fordern darum ein Hör-Screening vor der Einschulung.

Richtungshören gestört

„Kinder, die zu uns kommen, haben oft schon eine lange Leidensgeschichte hinter sich“, sagt Andrea Bohnert von der Universitätsmedizin Mainz. „Denn kindliche Schwerhörigkeit, die erst nach der Geburt eintritt, wird oft übersehen.“ Bohnert arbeitet im Schwerpunkt Kommunikationsstörungen der HNO-Klinik. Viele schwerhörige Kinder haben etwa Probleme beim Richtungshören. Dabei geht es darum, zu erkennen, aus welcher Richtung Schallwellen aufs Ohr treffen. Gerade in der Schule kann dies für betroffene Kinder zum Problem werden. Denn hier müssen sie aus einem Potpourri an Stör- und Nebengeräuschen das Wichtige herausfiltern.

Schlechte Raumakustik in der Schule

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Frontalunterricht sei aus Sicht des schlecht hörenden Kindes leichter zu bewältigen.

„Es gibt immer mehr Gruppenarbeit, bei der mehrere Schüler an einem Tisch zusammenarbeiten“, sagt Bohnert. Dabei wird durcheinander gesprochen und zum Teil auch geflüstert, um andere Tische nicht zu stören. „Für das hörgeschädigte Kind ist das ein ständiger Stress. Bevor es mitbekommen hat, wer da nun jeweils spricht, hat es den ersten Satz bereits verpasst“, erklärt Bohnert. „Es muss eine ständige Kompensationsleistung erbringen.“  Wortmeldungen der Mitschüler aus den hinteren Reihen stellen aber eine Herausforderung dar.

Falsche Diagnose: ADHS oder Autismus

In komplexen Hörsituationen schalteten Kinder mit gestörtem Richtungshören irgendwann einfach ab und hörten nicht mehr zu, beschreibt Karsten Plotz von der Jade-Hochschule in Oldenburg das Phänomen. „Die Kinder werden unruhig und fallen negativ auf. Kommt das häufiger vor, werden sie als 'Störer' klassifiziert.“ Nicht selten ende das mit falschen Diagnosen wie Aufmerksamkeitsstörung, ADHS oder gar Autismus, kritisiert der Mediziner.

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Experten fordern ein Hör-Screening vor der Einschulung.

„Das Problem ist, dass der Diagnostik kindlicher Hörstörungen viel zu wenig Beachtung geschenkt wird“, sagt Martin Walger, der Leiter der Abteilung für Audiologie und Pädaudiologie in der HNO-Klinik der Universitätsklinik Köln. Genau wie Bohnert und Plotz fordert Walger ein zusätzliches Hör-Screening vor der Einschulung. „Denn die üblichen Hörtests im Rahmen der U-Untersuchungen beim Kinderarzt reichen da bei weitem nicht aus“, sagt er.

Paukenergüsse ernst nehmen

Plotz weist auf Studien hin, denen zufolge das Richtungshören bei zehn bis 20 Prozent aller Erstklässler gestört sei. „Ursache dafür sind meist unerkannte und unbehandelte Paukenergüsse im Mittelohr im Kleinkind- und Kindergartenalter“, erkläutert er. „Neunzig Prozent aller Kinder haben das irgendwann einmal.“ Dabei sammelt sich Flüssigkeit im Mittelohr. Bei etwa 35 Prozent träten die Paukenergüsse mehrfach und über längere Zeit auf und würden dann vielfach chronisch.

Neuer Test soll helfen

Plotz und sein Team an der Jade-Hochschule haben ein System entwickelt, das helfen soll, genau diese Störungen zu erkennen. Dabei handelt es sich um eine Ergänzung des sogenannten Mainzer Kindertisches, der bereits jetzt in Spezial-Kliniken verwendet wird, um das Hörvermögen bei Kindern zu überprüfen. Beim Messen mit dem neuen Zusatzmodul soll das Kind mit Hilfe eines Drehreglers angeben, aus welcher der 37 möglichen Schallrichtungen ein Geräusch kommt. Das Modul wird zurzeit an sechs deutschen Unikliniken getestet, unter anderem in Köln und Mainz. „Es schließt endlich eine diagnostische Lücke“, sagt Walger.

Heilung oder Kompensation

Heilen lässt sich ein gestörtes Richtungshören in der Regel nur, wenn es sehr früh entdeckt wird. „Es geht mehr darum, die kompensatorischen Fähigkeiten zu stärken“, sagt Plotz. Betroffenen Schülern rät er etwa, in der Schule möglichst weit vorn zu sitzen. Und zumindest in der Grundschule, wenn sich die Kinder überwiegend im selben Klassenraum aufhalten, könne die Raumakustik mit relativ wenig Aufwand verbessert werden.