Ohne Zwang, ohne ZuhälterWarum Lisa mit 14 Prostituierte wurde – und es nicht bereut

So sieht Lisa heute aus: Sie ist mit 20 eine „ganz normale“ junge Frau, sagt sie.

So sieht Lisa heute aus: Sie ist mit 20 eine „ganz normale“ junge Frau, sagt sie.

Köln – Fürs erste Mal gab's 100 Euro. Der Mann fuhr mit Lisa auf einen Feldweg, drückte ihr später die Scheine in die Hand, sie sah ihn nie wieder. Danach ging Lisa in eine Kneipe, „dort war alles so, als wäre es nie passiert“.

Lisa war damals 14, der Mann 43. Es war ihr erster Freier, der Einstieg in ein Leben als Prostituierte. Das blonde Mädchen aus der schwäbischen Provinz verkaufte ihren Körper vier Jahre lang an Hunderte Männer – ohne Zwang und ohne Zuhälter. „Mich hat schon immer fasziniert, wie einfach es ist, mit seinem Körper Geld zu verdienen“, sagt die heute 20-Jährige.

Vor zwei Jahren machte sie Schluss damit, hat ihre Erlebnisse jetzt in einem Buch veröffentlicht („Nimm mich, bezahl mich, zerstör mich“, Schwarzkopf & Schwarzkopf, 9,95 Euro). Heute lebt Lisa ein „ganz normales, völlig uninteressantes Leben“ mit Büro-Job und festem Freund.

Doch immer wieder kommen leise Stimmen, die sie zurück zu fremden Männern treiben wollen – und obwohl sie fast daran kaputt ging, hat Lisa ihre Jahre als minderjährige Prositutierte nie bereut. Wie Lisa Müller zur Prostituierten wurde, warum sie den Ausstieg schaffte und was diese Zeit aus ihr gemacht hat: EXPRESS.DE erzählt ihre Geschichte.

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Faszination und Einstieg

„Lust auf Sex hatte ich eigentlich nie“, sagt Lisa. Trotzdem hatte sie mit 13 Jahren ihr erstes Mal, kurz darauf zählte sie ihre Lover nicht mehr. „Es war ein Wettkampf zwischen den Mädchen im Dorf: Wer mehr Jungs im Bett hatte, war toller.“ Für Lisa, die sich als Kind dick und hässlich fand, war es eine Bestätigung, wenn Männer auf sie standen. Dass es sogar welche gab, die für sie bezahlen wollten, „das war für mich natürlich noch toller“, erzählt sie mit strahlenden Augen.

Deshalb war sie fasziniert, als ein fremder Mann im Park ihre Nummer haben wollte, sie mit SMS bombardierte, sie unbedingt treffen wollte. „Da habe ich gesagt: Das ist meine Chance.“

Die Feier verschafften nicht nur die ultimative Bestätigung – sondern befriedigten auch Lisas Gier nach finanzieller Sicherheit. „Ich hatte schon als Kind einen komischen Bezug zu Geld“, sagt sie. „Ich hatte immer genug zu essen, war aber nie reich. Ich hatte immer Angst, dass irgendwann kein Geld mehr da ist, wollte unbedingt eine Reserve anhäufen.“

Über Online-Portale warb das Mädchen Freier an, das Postfach war immer voll. „Hey du, Lust auf einen Blowjob im Auto, jetzt gleich?“, schrieben Männer, die bis zu 40 Jahre älter waren als Lisa selbst. „Wie sieht denn das junge Fickstück aus, aussagekräftige Bilder bitte?“ Oder: „Komm zu mir, spiel meine kleine Tochter, die nicht artig ihre Hausaufgaben macht...“

Lisa spielte mit dem Lolita-Image, ging auf die Wünsche der Ehemänner und Väter ein. Sie traf bis zu zwei Freier am Tag, befriedigte die fremden Männer im Auto, im Büro oder in Hotels. „Spaß hatte ich dabei nie“, sagt sie. „Aber am Anfang war es auch nicht so, dass ich mich geekelt habe. Ich konnte abschalten, war einfach nur wie eine Hülle, mein Geist war woanders.“

Abschalten und verdrängen hat Lisa früh gelernt: Mit 13 wurde sie das erste Mal von einem damaligen Kumpel vergewaltigt: Er fiel in seinem Auto über sie her, die wenigen Minuten kamen ihr „wie eine Ewigkeit in der Hölle“ vor. „Alles Gefühl in mir war abgestorben“, erzählt Lisa leise und schnell. „Ich wollte einfach nur, dass es vorbei war.“ Am nächsten Morgen hat sie so getan, als wäre nichts passiert. Kurz darauf hatte sie wieder Sex mit anderen Jungs.

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Sex-Jobs und plötzlicher Reichtum

Lisa ging morgens zur Schule, nachmittags ins Fitness-Studio, abends auf Partys. „Ich hatte ein ganz normales Leben, wenn ich nicht gerade Freier traf oder suchte“, sagt sie. Wenn sie anschaffen ging, erfand sie Treffen mit Freundinnen oder anderen Jungs, von der Prostitution durfte niemand erfahren. „Es hätte alles kaputt gemacht.“ Sie wollte nicht vom ganzen Dorf als Hure abgestempelt werden, doch noch größer war die Angst davor, dass jemand ihr Doppelleben zerstört. Sie wollte weitermachen.

„Das war auch ein Kick, dieses Verbotene. Als 14-Jährige war es interessant, die ganzen erwachsenen Männer kennen zu lernen. Zu erfahren, was die von einem Mädchen wollen.“ Sie grinst bei der Erinnerung daran. Das Geld wollte Lisa anfangs vor allem besitzen, dann gab sie es für Berge von Klamotten und teure Reisen aus. „Alle waren neidisch, das war schon toll“, sagt sie. Freundinnen dachten, das Geld käme vom aktuellen Freund der Mutter – die Familie strich ihr als Reaktion nur das Taschengeld. „Meine Mutter hat nicht interessiert, warum ich plötzlich reich war.“

Ihrem ersten Freund hat sie alles verheimlicht, der zweite erfuhr davon. „Der musste das akzeptieren, weil ich nicht aufhören wollte.“ Zwar wurde im Dorf getuschelt, doch Lisa hat alle Gerüchte immer abgestritten. „Ich war nie ein Kind von Traurigkeit, lief auch immer mit kurzen Röcken und stark geschminkt rum. Aber alles andere blieb mein Geheimnis.“

Sie konnte die Fassade aufrecht erhalten – doch Lisas Psyche litt unter ihrem geheimen Nebenjob. „Es gab Phasen, da habe ich mich nur noch geekelt, hatte den ganzen Tag schreckliche Bilder im Kopf. Dann habe ich mich mit Shopping-Trips abgelenkt.“ Und danach machte sie weiter.

Mit 16 Jahren wurde Lisa das zweite Mal vergewaltigt: Sie traf sich mit einem Freier, „aber der war mir nicht geheuer, ich wollte keinen Sex mit ihm“. Doch er war stärker, hörte nicht auf. Die Folge: Ein paar Tage Pause, danach der nächste Freier. „Ich habe mir eingeredet, dass es nicht so schlimm ist. Es war ja nur ein Mann von vielen.“

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Absturz und Ausstieg

„Irgendwann war ich völlig depressiv, ich konnte einfach nicht mehr“, sagt Lisa. Mit 18 Jahren hatte sie sich geschätzt an 200 bis 300 Freier verkauft, wurde immer wieder von den Bildern eingeholt. „Ich konnte wochenlang nicht aufstehen, hatte furchtbare Angst vor Menschen, beim Gedanken an Männer wurde mir schlecht.“ Hinzu kam ihr aktueller Freund, der von den Sex-Jobs wusste, sehr darunter litt. Dann habe ich plötzlich entschieden: „Jetzt ist Schluss, es geht einfach nicht mehr.“

Männer und Bestätigung vermisste sie nicht – aber das Geld! „Klar, das fehlt mir immer. Es war ganz schwer, damit klarzukommen.“ Mittlerweile arbeitet Lisa, die einen Hauptschulabschluss hat, in einem Büro, ab dem Sommer will sie auf ein Abendgymnasium gehen, ihr Abitur nachholen. „Am liebsten würde ich danach Psychologie studieren“, sagt sie. „Irgendetwas aus mir machen. Aber bis dahin dauert's noch.“

Lisa lebt seit zwei Jahren mit ihrem Freund zusammen. Er ist der erste Mann, dem sie vertrauen kann: „So einer ist mir noch nie begegnet, er ist kein Arschloch“, sagt sie. „Er ist lieb und bodenständig, hat keine perversen Vorlieben. Er ist der Erste, der mich nicht nur als Lustobjekt sieht.“

Obwohl Lisa mit ihrem ganz normalen Leben glücklich ist, verfolgt sie die Angst vor einem Rückfall. „Das alles ist wie eine Sucht“, gesteht sie. „Wenn das Geld knapp ist, kommen immer wieder die Stimmen, die mir einflüstern: 'In zwei Stunden könntest du so viel verdienen'. Bislang konnte ich sie immer wegschieben.“ Doch Lisa würde nie garantieren, dass sie sich irgendwann wieder verkauft.

In ihrem Buch rät die 20-Jährige allen Mädchen davon ab, den gleichen Weg zu gehen: „Passt auf, wenn euch euer Leben etwas wert ist, es gibt so viele Kranke da draußen!“ Sie gibt sich geläutert, warnt vor Nächten, in denen man sich als junge Prostituierte dafür hasst, was man tagsüber getan hat. Das Geld sei verlockend, aber „ist es das wert, dich von irgendwelchen alten Männern durchvögeln zu lassen?“

Lisas Psyche wäre fast an den vielen Freiern zerbrochen – trotzdem beteuert sie: „Ich habe das alles nie bereut.“ Die 20-Jährige glaubt fest daran, dass alles im Leben einen Sinn habt – auch ihre Jahre als minderjährige Prostituierte. „Ohne das wäre ich ein anderer Mensch“, sagt sie und klingt stolz dabei. „Und ich bin sehr zufrieden mit dem, was ich jetzt bin.“