Erschreckende Knast-StudieGewaltorgie in deutschen Gefängnissen

Gewalt gehört nach wie vor zum Häftlingsalltag.

Gewalt gehört nach wie vor zum Häftlingsalltag.

Düsseldorf  – November 2006. Der Foltermord von Siegburg (NRW) schockt die Republik. Über Stunden hinweg hatten drei 17- bis 20-jährige Häftlinge einen 20 Jahre alten Mitgefangenen gequält und vergewaltigt und ihn dann gezwungen, sich selbst zu strangulieren.

Alle drei wurden später zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Der Fall löste eine hitzige Debatte über Gewalt in Deutschlands Gefängnissen aus - bis hin zu Forderungen, endlich durchzugreifen. Appelle, die verpufften.

Gewalt gehört nach wie vor zum Häftlingsalltag. Täglich werden Straftaten im Knast verübt, von denen die Öffentlichkeit meist nichts erfährt, wenn sie nicht mit Mord und Totschlag enden. Das belegt eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen unter Federführung des renommierten Experten Christian Pfeiffer.

Gut ein Viertel aller weiblichen und männlichen Häftlinge und fast die Hälfte aller Jugendlichen gaben an, im Laufe eines Monats Opfer von Gewalt geworden zu sein.

Befragt haben die Experten 6384 Häftlinge in 33 Gefängnissen in Bremen, Brandenburg, Niedersachsen, Sachsen und Thüringen. Ihre Antworten sind schockierend.

Die Liste der Exzesse:

• Verbreitung von Lügen und Gerüchten durch Mithäftlinge, Erpressung.

• Diebstähle.

• Faustschläge, Tritte, Beschimpfungen, Drohungen, Angst einjagen.

• Müll oder Exkremente in Zellen werfen.

• Sexueller Missbrauch: Rund 5 Prozent der Männer und 3,6 Prozent der Frauen klagen über sexuelle Übergriffe - bis hin zur Nötigung zum Geschlechtsverkehr. Die Folgen der Attacken reichen von Hilflosigkeit, Wut bis hin zu Prellungen, offenen Wunden, Brüchen und inneren Verletzungen.

Mai/Juni 2011: In der Berliner Strafanstalt Plötzensee misshandeln fünf Gefangene über Tage hinweg einen Mithäftling, scheren ihm u.a. den Kopf.

Februar 2010: Fünf Häftlinge sollen in der Berliner JVA Tegel von Mitgefangenen misshandelt worden sein. Einen habe man gezwungen, sieben Becher eines Cocktails aus Shampoo, Salzwasser, Öl und verdorbener Milch zu trinken.

Juni 2009: In der JVA Rheinbach quälen zwei Täter über Wochen einen Mithäftling. Man habe ihn gezwungen, Kot zu löffeln und Urin zu trinken. Nach einer Vergewaltigung wendet er sich an einen Bediensteten.

Mai 2008: In Regis-Breitingen (Sachsen) zwingen Insassen einen Mitgefangenen (18) zu Folterspielen, versuchen, ihn in den Suizid zu treiben.

Häftlinge als Opfer und Täter - die Grenzen sind fließend: Gut die Hälfte der Männer und der überwiegende Teil der Frauen bekannte sich dazu, in den letzten vier Wochen selbst Aggressionen gegen Mithäftlinge ausgelebt zu haben.

Mit 70 Prozent besonders hoch ist dabei der Anteil der Jugendlichen. Jeder sechste Gefangene räumt zudem Drogenkonsum ein. Bevorzugte Tatorte sind Duschen, Gemeinschaftszellen, schlecht einsehbare Flure und Toiletten.

Trotz allem erstattete fast die Hälfte der Opfer keine Anzeige. Als häufigste Gründe nannten sie : „Weil man das im Gefängnis nicht macht“ – oder: „Damit ich nicht als Verräter gelte.“

Nur wenige Häftlinge fühlen sich zudem von JVA-Bediensteten beschützt. Mehr als 25 Prozent vertrauen da eher auf Mitgefangene.

„Offenbar ist es wie im Kinofilm, dass es Knastkönige gibt“, sagte Pfeiffer. In NRW, wo keine Häftlinge befragt wurden, hält das Justizministerium die Studie für „überzogen“. Seit Siegburg seien die Behörden extrem sensibilisiert, so ein Sprecher.

2011 habe es 587 Fälle von geringer Gewaltanwendung gegeben. Dazu zählten Prellungen oder Schürfwunden. Die Fälle grober Gewaltanwendung seien seit 2004 auf ein Viertel zurückgegangen und bewegten sich im kleinen zweistelligen Bereich.