Unglaublich!Chef der Bonner Rechtsmedizin: Jedes Jahr bleiben 2000 Morde unentdeckt

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Professor Burkhard Madea vor dem „Giftschrank“ mit verschiedenen Arzneimitteln, auf die im Institut am Stiftsplatz getestet wird.

Bonn – Seit 1996 ist Professor Dr. Burkhard Madea Chef der Bonner Rechtsmedizin.

Mit dem 59-Jährigen sprach Jessica Backhaus über unentdeckte Kapitaldelikte, Finanzlöcher und eine extrem fleißige Obduzentin.

Wie viele Obduktionen führt Ihr Institut im Jahr durch?

Durchschnittlich 350 bis 400, die müssen grundsätzlich jeweils von zwei Ärzten durchgeführt werden. Aber an der Abnahme der Sektionen sind alle Ärzte beteiligt. Und selbstverständlich geht jedes Protokoll wie auch jedes Gutachten über meinen Schreibtisch.

Wie viele Obduzierte wurden Opfer von Gewaltverbrechen?

Tötungsdelikte haben wir mal ausgewertet für die Jahre 1999 bis 2009, das waren in dem Zeitraum ungefähr 150 Tötungsdelikte. Und zwar im Sinne von Vorsatzdelikten: Totschlag und Mord.

Sind die Bonner damit eher tötungsfreudig oder harmlos?

Also, man wundert sich, das ist teilweise gar nicht Bonn selbst, sondern das sind eher die ländlichen Bezirke. Besonders gravierende Delikte kommen auch im ländlichen Bereich vor.

In einem früheren Interview sagten Sie, 2000 Tötungen jährlich blieben unentdeckt.

Wir wissen, dass es eine Dunkelziffer durch die Leichenschau nicht erkannter Tötungsdelikte gibt. Der damalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin hat mal eine multizentrische Analyse durchgeführt von Zufallsentdeckungen von Tötungsdelikten und das hochgerechnet und da kommt man in der Tat für Deutschland auf ungefähr 1500 Fälle pro Jahr, möglicherweise 2000.

Woran liegt das? Wird allgemein zu wenig obduziert?

Gerichtliche Obduktionen sind ungefähr 17.000 bis 18.000 im Jahr – in ganz Deutschland. Das ist vergleichsweise wenig. Nehmen wir mal Vilnius, Hauptstadt von Litauen, hat 600.000 Einwohner und 10.000 gerichtliche Obduktionen. Allein diese Stadt. Wir sind in dieser Hinsicht wirklich rückständig.

Wie könnte eine Lösung aussehen?

Was wir in Deutschland bräuchten, wären Verwaltungssektionen. Also die Todesfälle, an denen der Staatsanwalt oder die Polizei kein Interesse hat, aber die medizinisch unklar sind, die müssten natürlich einer medizinischen Klärung zugeführt werden durch Obduktion.

Wie ist Ihr Institut personell und finanziell ausgestattet?

Alle rechtsmedizinischen Institute in Deutschland haben ein strukturelles finanzielles Defizit. In einigen Bundesländern wird das ausgeglichen.

Zum Beispiel hat der Senat in Hamburg schon vor mehr als zehn Jahren beschlossen, dass über den Betrag für Lehre und Forschung hinaus dem Institut ein Sockelbetrag von einer Million Euro zur Verfügung gestellt wird, damit dieses strukturelle Defizit ausgeglichen wird. Etwas Ähnliches fordern wir in Nordrhein-Westfalen ebenfalls.

Und wie sieht es mit der personellen Ausstattung aus?

Wir sind ungefähr an die 30 Mitarbeiter.

Sind genügend Obduzenten in Bonn im Einsatz?

Ich habe meinen Stellenpool gar nicht vollständig ausgeschöpft, weil ich das strukturelle Defizit nicht erhöhen will. Und ich habe unter anderem sehr leistungsfähige und tatkräftige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Meine Oberärztin zum Beispiel hat es einmal fertiggebracht, in einer Woche 23 Obduktionen selbst zu machen. Das ist eine riesige körperliche und auch intellektuelle Leistung.

Was tun Sie in Ihrer Freizeit, wenn Sie mal entspannen wollen?

Was für mich wichtig ist, was ich in der Woche zu wenig habe: Bewegung, Bewegung, Bewegung. Ich versuche immer am Wochenende Rad zu fahren oder zu wandern. Und dann auch 20 Kilometer. Entweder am Rhein lang oder im Kottenforst oder dem Siebengebirge.

Wie lange dauert eine durchschnittliche Obduktion?

Ich hatte mal ein Opfer zu obduzieren mit 98 Messerstichverletzungen – für einen solchen Tag braucht man sich nichts mehr vornehmen.

Wo stößt Rechtsmedizin an ihre Grenzen?

Wenn ich mir anschaue, was in den 33 Jahren, die ich im Fach bin, alles erreicht worden ist, dass wir im Nanogramm-Bereich Substanzen nachweisen können, dass wir im Haar nachweisen können die Einmalgabe von K.o.-Mitteln, oder was uns die gesamte DNA-Analytik ermöglicht hat: Das war wirklich vor 33 Jahren völlig undenkbar.

Und die Grenzen verschieben sich immer weiter. Die Aussagemöglichkeiten werden immer besser.

(exfo)